Wir sprechen heute über Hildegard, die, trotz ihres durchaus überkommenden Vornamens, in der Blüte ihrer jungen Jahre steht. Hildegard ist seit zwei Jahren verheiratet, insgesamt fünf Jahre in Partnerschaft mit Irene, die ihr Schicksal eines trügerisch urzeitlichen Namens teilt.
Beide sind also jung, nahezu schön und durchschnittlich begabt. Ihre Beziehung ist trotz aller bekannter Höhen und Tiefen als eine durchaus glückliche zu charakterisieren.
Eines Tages jedoch erinnert sich Hildegard – man sollte sie ja nicht Hilde nennen, wenn man ihr in freundschaftlichem Verhältnis stehen möchte – an etwas Ungeheuerliches: Ist sie denn nicht, hier und heute, noch mit einer weiteren Frau zusammen? Aber ja, Cordette!
Lassen wir uns das einmal näher anschauen: Noch kurz vor dem Kennenlernen Irenes, war Hildegard bereits seit einem Jahr in einer festen Beziehung mit der verführerisch stilvollen Cordette. Eine Partykönigin, frei und lebensverwöhnt. Doch, wie es das glückselige Unglück will, traf unsere Protagonistin darauf eben jene Frau, die sie später ehelichte – Irene. Soweit, so profan, einzig hat Hildegard niemals die Initiative ergriffen ihre alten Bande offiziell für beenden zu erklären.
Mehr noch: Sie vergaß einfach die Existenz ihrer Ehemaligen und den zweiten Teil der Bande Träger – Cordette.
Und wenn ich nun vergessen sage, meine ich nicht das verschieben eines Gedankens in das Vorbewusste hinein, sodass dieser lediglich zurückkehrte, wenn man sich die Zeit zum Denken nimmt. Auch das Unbewusste in ihr kannte weder Schuld noch das Gefühl, dass da noch etwas Unabgeschlossenes sei.
Zudem war es mitnichten ein solches Vergessen, wie man es aus Comics kennen mag, in denen ein Steinschlag auf dem Kopfe des Protagonisten sein Erinnerungsvermögen löscht, also ein irgend organisches, pathologisches. Es war also lediglich ein bloßes Entfallen, ein Missgeschick abstrusen Ausmaßes, doch eines, das total war. Ja, Cordette war weg.
Auch begegnete sie ihr nie zufällig, damit diese sie hätte erinnern können, noch kontaktierte diese sie. Wie könnte das sein? Hat Cordette etwa nicht auf sie gewartet, oder hat sie den Verrat gar erahnt? Oder wartet sie etwa noch immer, nach einem halben Jahrzehnt, auf eine Rückkehr, doch schweigsam, ohne Nachfrage?
Doch weshalb meldete sie sich nicht selbst, sie hatte doch gewiss noch Hildegards Nummer. Und wie überhaupt hat sie sie vergessen können, verdammt?
Denn jetzt berührt sie durchaus etwas an ihrer Erinnerung – eine vergangene Liebe, die tatsächlich rein war, noch unvollendet und neu, findet sich in ihr. Eine unerwartete Sehnsucht nach Cordette ergreift sie, weg von ihrer Frau, die sie doch bis eben noch so innig liebte.
Was hat sie Cordette bloß angetan, sie zu verlassen, zu verschwinden gar, ohne Wort und ohne Vorwarnung?
Dagegen – was täte sie umgekehrt Irene an, würde sie zu Ersterer zurückkehren, ja, würde sie Letzterer bloß die Tatsache gestehen, eine nicht aufgehobene Beziehung neben ihr zu konservieren? Würde sie ihr ihr bloßes Vergessen glauben? Sie glaubt es ja doch selber nicht.
Und nun, ergriffen von der Liebe zu zwei verratenen Frauen zugleich, wird der Hildegard schwindelig und mulmig. Die furiose Cordette und die liebevolle Irene, wie soll sie ihnen nun entgegentreten?
Möge sie doch bloß wieder eine der beiden vergessen, die Last geteilter Liebe von sich genommen, doch nein, mit Absicht hat dies nichts zu tun. Das Bildnis der beiden Geliebten bleibt ihr erhalten.
So beschließt Hildegard letztlich zu Cordette zu eilen, nicht aus Endgültigkeit einer finalen Entscheidung zwischen beiden, doch aus Neugierde, ob sie tatsächlich noch auf sie wartete oder selbst ihre einstige Liebe vergaß, so wie diese sie.
Überstürzt und hastig, als hätte unsere ignorante Hauptfigur nach 5 Äonen keine Zeit mehr, macht sie sich frisch, erfindet fahrig einen spontanen Abend mit Freunden, um Irene zurückzulassen, wenn sie zu Cordettes alter Wohnung reist. Nur wenige Straßen weiter, so wundert sie sich, als ihr die Erinnerungen nach und nach zurückkehren. Haben sie sich wirklich nicht mehr gesehen seither? Womöglich hat sie sie beim Einkaufen getroffen, sind sich irgendwann auf der Straße begegnet, aber nicht mehr wiedererkannt…
Zu ihrer Irritation trifft sie auf geöffnete Türen, als sie am Ziele ihrer viel zu kurzen Reise ankommt. Eine Gruppe rauchender und trinkender Gesellen lungern vor dieser, sowie ein geöffnetes Fenster zur Küche Cordettes im Erdgeschoss hin, aus dem hämmernde und rhythmische Musik erschallt. Ausgerechnet heute ist sie in eine Party geraten. Ach, Cordette hat heute Geburtstag. Hildegard erinnert sich.
Halb verlegen, halb in Gedanken, fingert sie in den Taschen ihrer Jacke herum, zu schauen, ob dort nicht etwas bereit läge, das als Geschenk noch gerade durchgehen könnte. Noch bevor sie das Knistern einer längst überkommenen Taschentuchverpackung als solche identifizieren konnte, hört sie eine bekannte Stimme:
„Hilde?“, ruft eine freudig erregte, doch wohl durch alkoholbedingter Überbeanspruchung der Stimmbänder, heisere Männerstimme zu ihr herüber, „Ja, du bist es, Hilde!“
Es ist Michael, ein alter, doch nicht enger Freund Cordettes, somit Bekannter Hildegards. Er hat niemals auf ihr Verbot sie bei dem vermaledeiten Namen zu nennen zu hören versucht. Er schien sie trotz alledem doch immer besonders gemocht zu haben, insbesondere, wenn er betrunken war. Dass diese Leidenschaft für die Liebhaberin Cordettes nicht beidseitiger Natur war, wurde ihm indes nie bewusst, da seine Sinne stets benebelt, sein Bedürfnis lediglich Ausdruck, nicht Dialog war. So auch heute.
„Wie lange haben wir uns nun schon nicht mehr gesehen?“, fragt der Altbekannte lallend und mit jedem Wort die Fahne des Fiebers vor sich hertragend, „bestimmt zwei Jahre!“
„Fünf“, entgegnet Hildegard trocken.
„Fünf Jahre!“, lacht Michael, sich beinahe daran verschluckend, „ja, es fühlt sich wie fünf an.“
„Ist Cordette da?“, fragt Hildegard unumwunden. Michael verzieht die Mundwinkel, als habe er etwas heikles aufgedeckt. Er scheint den Ernst der Lage zu missverstehen.
„Ärger im Paradies, wa?“, fragt Michael daher kumpelhaft, „sie ist in der Küche.“
Ohne dem unangenehmen Bekannten weiter beizuwohnen schreitet die Besucherin also hinein, gefolgt von zwei weiteren bekannten Stimmen, die freudig ihren (langen) Namen rufen, wie man einer alten Freundin zurufen mag, die man länger zwar nicht gesehen hat, dessen Auftauchen aber allzu selbstverständlich erscheint.
Noch ehe Hildegard sich erneut dem Fehlen ihres Geburtstaggeschenkes gewahr wird, kommt sie in die Küche. Dicke Luft schlägt ihr entgegen, durchzogen nur von den dünnen Schlieren frischer solcher, die durch das Fenster einzieht. Der ganze Raum ist voller Gesichter, die sie kennt, denn den gesamten Freundeskreis Corvettes hatte sie damals bereits kennenlernen dürfen. Immerhin waren sie ja auch schon drei Jahre zusammen gewesen damals. Doch auch diese Bekannte und Freunde hatte sie vergessen. Cordettes beste Freundin Elena, so bemerkt Hildegard nun, ist sogar Irenes Nachbarin. Verrückt.
Und dort, am Ende des Raumes, sitzt nun SIE. Ihre Freundin, Lebenspartnerin, Liebe. Auch Cordette bemerkt ihr Erscheinen. Kurz nur flackert Überraschung auf in ihrem Blick, eine kurze Erregung, wie man sie erwartete, wenn ein lange verschollen geglaubter Liebhaber eines Tages von seiner Reise über die weite See zu seiner Geliebten zurückkehrt. Doch bald schon weicht sie ihrem Blicke aus, widmet sich wieder den Gesprächen um sie herum, so als sei Hildegard nur kurz hinausgegangen, um sich die Beine zu vertreten und nun wortlos heimgekehrt. Grollt sie ihr? Oder will sie ihre Überraschung nicht zeigen? Michael scheint ja immerhin, zumindest seinem Verhalten nach zu urteilen, auch nicht darüber Bescheid gewusst zu haben, dass Hildegard Cordette verlassen hatte. Was sie auch nie hatte.
Langsam tritt unsere Protagonistin näher an die Gastgeberin heran, doch ohne sie direkt anzusprechen. Sie reiht sich in eine Gruppe ein, die enthusiastisch über Tiefkühlbäckerbrötchen debattiert. Zwei Frauen und ein Mann, Hildegard weiß noch, dass sie Sarah, Linda und Gerd heißen, grüßen sie beiläufig. Immer wieder überlegt sie, wie sie es schafft dem Gespräch glaubhaft beizuwohnen, doch mehr als ein kaum hörbares „ja, die sind echt gut“, bringt sie nicht über ihre Lippen. Immer wieder wandert dabei ihr Blick zu Cordette, die es ihr ab und an gleichtut. Sie ist noch so schön, wie damals. Ihr Haar gefärbt in den Farben der Vergangenheit, ihre Lippen geformt wie Hildegards Augen und ihr ganzer Körper so groß, wie deren Hand.
Sie hofft Cordette nicht zu zerquetschen, während sie sich neben sie wünscht.
Sie muss sauer auf sie sein, gewiss. Sie hat sich ja immerhin einfach nicht mehr gemeldet bei ihr. Doch warum stellt sie sie nicht zur Rede? Straft sie sie mit Schweigen? Niemand von ihren Freunden jedenfalls scheint von ihrem Verschwinden zu wissen. Sie wird von ihnen so unbekümmert aufgenommen, als sei sie ein organischer Teil ihres Lebens, der niemals weg war. Ach, hätte Hildegard Irene doch bloß nie kennengelernt. Sie darf Cordette nie wieder anfassen, auch, wenn sie ja noch zusammen sind. Ist es die Heirat, die größer wiegt, oder die lange Zeit der gemeinsamen Verpflichtung füreinander, die Irene priorisiert? Aber ist Hildegard nicht noch länger mit Cordette zusammen? Rein rechnerisch, rein formell?
„Ach, hi“, hört sie nun eine Stimme hinter sich ertönen, wie das Rauschen des Meeres bei Sonnenuntergang. Eine Symphonie aus rot und blau. Tief in Gedanken versunken hat Hildegard nicht bemerkt, dass sich Cordette ihr näherte.
„Hi, Cordette“, antwortet Hildegard.


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