Eine klassische Totenerzählung:
Zu Beginn hatte ich mich noch erschrocken. Und ich meine nicht diesen plötzlichen, schnellen Schrecken, wie man ihn vielleicht in den kulturindustriellen Horrorfilmen erlebt, die massenkompatiblen Erfolg lediglich noch dadurch erheischen, dass sie statt Originalität nur das in Serie liefern, was man neudeutsch als „Jump Scare“ bezeichnet. Es war dagegen ein unvermindert tiefer Schrecken, eine verstörende Erschütterung aller Überzeugungen, so als würde von jetzt auf gleich die Gravitation in den Himmel hineinwirken, statt uns wie gewohnt auf Erden festzuhalten. Dabei ist doch das das Erzählte als Erzähltes, wäre es bloße Fiktion, allzu einfallslos. Ich bitte darum schlicht um eines, wenn ich nun beginne fortzufahren: Mir unbedingt und unhinterfragt Glauben zu schenken.
Es ereignete sich an einem Samstagabend, ich glaube es war im Herbst, doch war hier erstaunlich warm. Ich verbrachte diesen ausnahmsweise ohne Gesellschaft, da meine Partnerin zu einer Weiterbildung in der nächstgelegenen Stadt war und nahezu alle meine Freunde anderweitig verpflichtet waren, wie es im zunehmenden Alter gewiss immer häufiger der Fall sein muss. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als es mir bequem zu machen und mir ein gutes Buch bereit zu legen, um mir daneben selbst eine Tasse Tee auf dem kleinen Tischchen auf dem Balkon zu servieren. Zunächst schlitterte ich, vampiresk verzehrt alle meine Aufmerksamkeit, über Applikationen meines Handys. Es waren die üblichen schnellen Bildchen und kurzen Clips, Kätzchen mit Kostümen, Fleisch mit Käse und Frauen mit Haut. Und doch schaffte ich es mich dieses Mal tatsächlich, sogar schneller als erwartet, hiervon loszureißen. Es war also noch hell, als ich mit der Lektüre begann, doch dauerte es nicht lange, ehe die Sonne, in ihrem zyklischen Rotieren um geteilte Mittelpunkte, unterzugehen drohte. Ich schaltete aus diesem Grunde also das selten genutzte Nachtlicht ein, um nicht ins Haus zum weiteren Studium vor der Dunkelheit fliehen zu müssen. Seid ihr noch bei mir? Ich komme gewiss bald zur Sache.
Ich weiß aber, wenn ich nun so darüber nachdenke, gar nicht mehr genau, was ich an jenem Abend eigentlich genau las; es kann nichts Aufregendes gewesen sein, vielleicht also ein Sachbuch oder etwas Politisches. Mein Gemüt wurde auf jeden Fall nicht allzu sehr erregt, nicht einmal irgend anstößig schien mir die Schrift zu sein – das hätte ich mit ziemlicher Sicherheit behalten. Also keine grobe Verletzung meiner eigenen Meinung kann das Buch enthalten haben, auch keinen unkonventionellen Stil und wahrscheinlich keinen Verweis auf allzu Grauenerregendes in Idee und Tat des Feindes. Als vollkommen natürlich also ist es zu bewerten, dass mein Blick immer wieder davonhuschte, mal über das noch immer mit dröger Sucht lockende Smartphone, mal über den Friedhof vor dem Hof meiner Haustür.
Ja, ich lebe am Friedhof, ich schätze es durchaus sehr – kein großer allerdings. Ich weiß nicht einmal, ob dort noch jemand aus diesem Jahrhundert begraben liegt. Lediglich ein paar verschlissene Steine -zumeist ornamental geschmückte Kreuze – und verwilderte Büsche, sowie nebelbetrunkene Moose findet man hinter der Dorfkapelle, die im Gegensatz zum Siechgarten noch in sichtbarem Betrieb war. Das Licht dieser Intitution war hier zwar bereits erloschen, doch der Pfarrer – Omer Babacan war und ist noch immer sein Name – verließ gerade das Gebäude, um in sein Auto zu steigen und seinen Abend seinerseits im Privaten zu begehen. Ein netter Kerl, das befand ich schon immer, nur etwas orthodox in seiner theologischen Auffassung, seltsam traditionell für diese Gegend. Doch im Gespräch je aufmerksam und entgegenkommend, als reiche es ihm bloß seine Ansichten darzulegen, nicht aber neue Schäfchen in seine Gemeinde einzuzäunen.
Aber vergessen wir das, zurück zum Thema: Letztlich konnte mich das Studium der mir entfallenen Schrift nicht halten. Und so kam es, dass ich gelangweilt seufzend die charakterlose Publikation zur Seite legte, um zumindest einmal auf das Handy zu schauen, ob auf meinen letzten Social-Media-Beitrag, klug und witzig, doch wie üblich verkannt, jemand reagierte. Nur kurz… Ganz sicher.
Doch ehe ich dazu kam, geschah das, was ich andeutete, das Ereignis, das mich an jenem Datum so sehr entrückte: Auf dem überwucherten Grabe eines verstorbenen Letztjahrhunderters, häufte sich – von unten her – die locker gewordene Erde. Es musste sich um einen Maulwurf handeln, so musste ich mir sicher sein, in meiner damaligen noch naiven, wie rational begründeten Denkart zugleich befangen. Doch noch ehe ich meinen Blick abwandte, stieß eine knochige Hand hervor, die peu à peu einen verwesten Körper hervorzog. Sie ging dabei vor, ich versuche is mir zu vergegenwertigen, wie ein Frosch oder eine Echse, die eine von außen betrachtet viel zu große Portion Tier herunterwürgte: ruckartig, nach und nach und mit langen Pausen zwischen ihren Bewegungen. Auf diese Art schälte sich der trockene Leib des Begrabenen empor.
Ich kann es gar nicht verständlich machen, wie seltsam ruhig ich währenddessen blieb. Aber zu abgefahren erschien mir der Moment, um ihn als solchen verarbeiten zu können. Noch immer verhielt ich mich, als würde ich bloß ein Nagetier bei der Schachtaushebung mit Blicken verfolgen. Doch in mir rumorte bereits die Erkenntnis, doch nur so allmählich und stoßweise, wie die beobachteten Rührungen vor mir. Gefesselt starrte ich auf den armen Teufel, der kraftlos, doch zielstrebig seinem Grab entfloh. So sehr war mein Geist gebannt, dass ich die vielen weiteren Bewegungen im peripheren Winkel meines Sichtfeldes zunächst gar nicht bemerkte. Doch da waren noch mehr, die sich erhoben.
Nun, so schockierend es auch war, was soll ich nun nur sagen: Dieses Erlebnis ist mittlerweile viele Nächte her. Seither, als hätten sie ihren Spaß am Leben wiedergefunden, kehren die Menschen jede Nacht aufs Neue wieder, sobald der Pfarrer fort und das Tageslicht verschwunden ist. Sie wandern dann umher, wie im chaotischen, doch nach innen durchaus sinnhaft erscheinenden Tanze, verlassen dabei jedoch nie den Friedhof, als wollten sie diese letzte Grenze nicht überschreiten. Ganz so also, als sei gar dieser letzte Übertritt in die Lebenswelt der Sterblichen die gotteslästerliche Tat, statt das bereits vollzogene Entwinden aus den Fängen des Todes selbst. Und sobald sie so tun, die Gräber ablaufen, langsamen Tempos, doch erhobenen Hauptes, mal tapsig, mal festen Schrittes, umhüllt ein tiefes Murmeln und kehliges Gelächter den Hof. Wie Freundinnen scheinen sie sich dann zu unterhalten, zu philosophieren und zu witzeln. Eine Gemeinschaft lockerer, beinahe von allen Sorgen befreiter, doch intelligenter Gesellen bilden diese Menschen, jede Nacht aufs Neue.
Und, ich beobachtete es eines Morgens, einige Tage darauf, als ich mir vornahm, noch mehr zu erfahren – noch ehe Vater Omer zur Kapelle zurückkehrte oder der erste Sonnenschein die Erde auf dem Friedhof erreichte – da gruben sich die Kumpaninnen wieder ein, jede für sich, zurück ins eigene Grab und strichen zuletzt mit der übrigen Hand die Erde über sich glatt, ehe auch diese untertauchte. Reste von Efeu verteilten sie dabei hierüber, sodass auch wirklich kein erkennbarer Rest mehr bleibe, der auf Grabesflucht hindeuten könne.
Ich schrieb also, dass ich zu Beginn erschrocken war- das war ich in der Tat. An jenem ersten Abend, von dem ich berichtete, war ich erschüttert, zumindest am Ende des Prozesses der Realisierung. Doch nun habe ich meinen rechten Gefallen gefunden an den allabendlichen Ereignissen. Ich beobachte seither gerne das gesellige Treiben, lausche dem klugen und humorigen Geflüster, lasse mich in den Schlaf singen vom tiefen Bass der sanft frequentierten Stimmen aller Bewohnerinnen des Gottesackers. Ich erfreue mich ihres Lebens, welches verloren geglaubt war.
Eines Tages, so denke ich nun, will ich neben ihnen beerdigt werden. Ich werde Vater Omer mal darauf ansprechen, meinen neuerweckten Glauben bekennen, ihm in allem zustimmen über Vater, Sohn und heiligen Geist – zumindest im Scheine – um die vielleicht Möglichkeit zu erlangen, in seine Obhut genommen zu werden. Ich hoffe doch sehr, dass in jenem Falle auch die bereits Bewohnenden des heiligen Grundes mich akzeptieren werden, im Kreise gelehrter Wiedergängerei. Und vielleicht, nur vielleicht, werde auch ich eines Nachts meine knochige Hand aus der Erde strecken und mich in ihre klugen Gespräche und ihr kehliges Lachen einreihen.
Eine weitere Stimme im Chor der geretteten Seelen.


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