Toxisches Geschlecht

Ich lese gerade „Toxische Weiblichkeit“ von Sophia Fritz – und finde es gut. Ich gebe zu, noch nicht weit gekommen zu sein und erkläre die folgenden Worte somit zum Schnellschuss auf Abruf.
Doch bis nun erachte ich die Analyse für klug, treffend und sinnvoll, ähnlich wie schon zuvor diejenige zur toxischen Männlichkeit anderer Provenienz.

Und doch bleibt mir ein Unbehagen.
Ich vermute, es hat mit der Vergeschlechtlichung dieser Begriffspaare zu tun. Anerkannt werden muss natürlich, dass die Autorin bereits transparent genug ist, festzustellen, dass auch Männer toxisch weibliche, sowie Frauen toxisch männliche Eigenschaften zeigen können.
Sie betont zudem – völlig zu Recht –, dass kulturelle Prägung diese Attribute historisch und tendenziell vergeschlechtlicht hat. In kritischer Distanz lässt sich also durchaus von toxischer Männlichkeit bei dominanten Männern oder toxischer Weiblichkeit bei (aus der Not des Patriarchats heraus) durchtriebenen Frauen sprechen.

Doch warum überhaupt so sprechen?

Alternativ bestünde ebenso gut die Möglichkeit von toxischem Harmoniedenken als Schuldkomplexität und Gefälligkeitsdruck oder von toxischem Konkurrenzdenken als Kraftmeierei und Dominanzgehabe zu reden – und dennoch ihre geschlechtsspezifische Funktion im warenproduzierenden Patriarchat zu reflektieren.

Das hätte einen Vorteil:
Es verhinderte jene Knoten im Kopf, die entstehen, wenn aus Analyse Politik und aus Politik individuelle Lebensgestaltung wird.
Dann nämlich wird aus einem analytischen Begriff – relativ und definiert – ein diffuser, moralischer Maßstab; und aus einer differenzierten Kritik an gesellschaftlichen Strukturen eine Sprechortschablone für jede Alltagssituation:
Wer darf was sagen, fühlen, fordern – und warum nicht. Genau hier beginnen die Fallstricke der Identitätspolitik und des strategischen Essenzialismus.

Das Vorgehen der zunächst geschlechtsneutralen Benennungen würde zugleich aber auch jene Angriffsfläche mindern, die entsteht, wenn man – auch als Feministin – spezifische Formen emotionaler Manipulation anspräche und dafür den Begriff toxische Weiblichkeit verwendete:
Der Vorwurf des Antifeminismus ist dann schnell zur Hand.

Kurzum:
Statt vergeschlechtlichte Begriffe für Fragen der Geschlechterkritik zu prägen, hielte ich es für sinnvoller, zunächst Funktionsbegriffe zu nutzen – ehe man sie auf das Geschlecht loslässt.

Andernfalls – so bin ich mittlerweile überzeugt – bleibt Dekonstruktion stets zwanghaft dem Konstrukt verhaftet.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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