Einstein

Du fällst!

Du erwachst mit einem Schrecken, wie in jenen kurzen Momenten, wenn du zu fallen glaubst. Dein Körper zappelt kurz, dann beginnst du dich zu orientieren. Du blickst um her, doch entgegen der Erfahrung lässt das Gefühl eines unliebsamen Sturzes nicht nach. Im Gegenteil: Du blickst auf die sich fortwährend emporbewegende Fassade eines schmalen Hochhauses. Du beschleunigst tatsächlich in Richtung eines dir unbekannten Abgrundes.

Fenster um Fenster ziehen an dir vorbei. Binnen weniger panischen Sekunden sammelst du Informationen und ziehst eilige Schlüsse – dein Leben hängt davon ab, wenn es nicht bereits verloren ist.

Wie bist du hierhergekommen? Egal. Wie hoch ist das Haus? Wie lange fällst du bereits? Wie lange wirst du es noch, ehe du aufprallst? Du schaust hinab. Es ist nebelig. Oder wolkig. Wie hoch oben bist du nur? Kein Boden ist zu sehen, noch immer nicht, noch immer nicht. Versuche dich festzuhalten, sagst du dir. Noch immer nicht.

Vor dir entfernen sich die Glasscheiben immer schneller nach oben, über deinen Kopf hinweg. Links von dir blickst du gegen eine weit entfernte hellblaue Wand, eintönig, wie verschwommen. Rechts jedoch eine ebenmäßige, graue Mauer aus glattem Beton. Sie ist dir sehr nah, sodass du deine rechte Hand an sie zu pressen versuchst, dabei einen Griff zu erlangen. Nun noch dein rechter Fuß, deine linke Hand, alle deine Finger. Doch ein Halt ist dir nicht vergönnt, die Mauer ist einfach zu glatt. In sich zwar rau, doch eben ohne Kerben für Finger oder Zehen.

Du überlegst schneller als das Hochhaus gen Himmel beschleunigt. Du schaust hinab. Noch immer nicht. 

Vielleicht schaut einmal jemand aus dem Hochhaus hinaus? Versucht dich zu ergreifen? Du schreist endlich. Wieso eigentlich erst jetzt? Deine Stimme überschlägt sich, als du Hilfe rufst. Einzelne Köpfe schauen tatsächlich hinaus, doch sind sie zu schnell wieder entfernt, als dass sie hätten antworten, gar reagieren können. Vielleicht, so überlegst du, ruft von oben jemand unten an, sodass man dir ein Tuch spannen könne, ehe du aufkommst. Wenn sie schnell genug sind… Wieder blickst du herab. Noch immer nicht.

Du beginnst in deiner Verzweiflung die besorgt dreinblickenden Köpfe zu zählen, die dein wildes Kreischen bemerken, doch tatenlos an dir vorbeiziehen. Nach den siebten solchen erst fällt dir auf, dass sie alle von rechts nach links zu stehen scheinen, ihre Körper parallel zum Boden – Merkwürdig, doch nicht relevant für das Überleben.

Also weiter. Was bleibt dir übrig? Du drehst dich im Sturze um, den Körper über die graue Fassade schrammend, dein Blick über die blaue hinweg nach hinten. Doch was zur Hölle ist das? Wieder blickst du auf ein Wolkenkratzer, ein weiterer aber, der seinerseits in deinem Sturze sich zu beschleunigen scheint. Allerdings: Dies in die andere Richtung. Dein Fall hat sich offensichtlich umgekehrt. Du stürzt nun in den Himmel, dieses Mal mit dem Kopf voran. Du blickst hinauf nach Unten: Noch immer nicht.

Was passiert mit mir, fragst du und fährst fort zu schreien. Die Menschen des zweiten Hochhauses blicken dir bestürzt – an der rechten, inneren Hauswand stehend, die Körper dabei parallel zum Boden in der Luft schwebend – entgegen.

Bist du von nun an verdammt im ewigen Zyklus hin und her zu stürzen, je einem bodenlosen Unten entgegen, ohne je dabei aufzukommen? Plötzlich wünschst du dir doch endlich tödlich landen zu dürfen.

Doch noch immer nicht. 

Wenige Sekunden später nur – doch für dich endlos wirkende Schreckensmomente nach deinem suizidalen Wunsch – eilt dein Freund auf dich zu. Auch sein Körper schwebt parallel zum Boden und schreitet die asphaltierte Mauer entlang.

„Den Zug haben wir verpasst, siehst du?“, sagt dieser und weist mit seinem Finger auf das erste Hochhaus, „wir sind wohl beide eingeschlafen.“

Verwirrt schaust du ihn an.

„Du hast geschrien, das hat mich geweckt“, stellt er nüchtern fest.

„Was?“, fragst du.

Doch er lächelt.

„Ich glaube, du hast schon wieder links und rechts mit oben und unten verwechselt.“ 

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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