Enttäuschung und Erlösung

Er schaut sie an. Irgendwas ist mit ihr. Sie versucht etwas zu sagen, ist unruhig. Er kann es spüren. Dabei könnte der Moment doch gar nicht schöner sein, nicht tiefer, nicht bedeutsamer. Über ihnen die Sterne, um sie herum eine sanfte Brise, unter ihnen frisches, doch noch trockenes Gras. Es ist warm, der Himmel wolkenfrei. Die Luft riecht nach Lavendel und Rosmarin, das Rascheln der Bäume bettet das Zirpen der Grillen in weiche Federn. Das einsame Paar hält Händchen. 

Was ist mit dir?“, fragt er sie endlich. Er ist sich nicht sicher, aber er glaubt Tränen in ihren sternenglänzenden Augen zu erblicken.
Sie seufzt. Aber sie ist bereit zu sprechen.
Weißt du, ich habe mich in dich verliebt“, beginnt sie. Überrascht schaut er sie an. Mit diesem Geständnis konnte er nicht rechnen. Denn es ist in der Tat eine schräge Offenbarung, immerhin haben sie sich doch erst heute kennengelernt. Und ja, er war ihr gleich zugetan, auf der Abschlussparty, sie war offen, redegewandt und in gewisser Weise faszinierend gewesen. Das ist sie durchaus noch immer, wenn auch ihr plötzlicher Gefühlsausbruch… bedrückend ist, unerklärlich bedrohlich gar.

Vielleicht, das hätte er ihr durchaus zugestanden, hätten sie sich später noch geliebt, also rein körperlich, versteht sich. Er selbst hat es nicht nur nicht ausgeschlossen, als er gemeinsam mit ihr den kleinen Hügel hinter dem Wald aufgesucht hat, sondern es durchaus gehofft, nahezu begehrt. Aber das? Sie kennt ihn doch gar nicht. Wen sollte sie schon lieben, wenn nicht eine Idee?

Unwohl, doch noch immer irgendwie auf ihrer Seite, spielt er mit dem Gras, zupft mit der freien Hand einzelne Büsche heraus. In der Ferne dröhnt noch immer der dumpfe Bass des abendlichen Events. 
Und doch. Sie macht nicht den Eindruck, als sei es nur so dahingesagt. Nicht einmal dies: Es erscheint sie nicht einmal selbst zu überraschen. Die unangemessene Gefühlsregung mag noch nicht einmal der Grund ihrer Unruhe zu sein. Da ist noch mehr. Und so fährt diese fort, mit brüchiger Stimme, nahezu flüsternd:

„Es ist eine wunderschöne Nacht. Und ich muss dir sagen, dass du mich verzaubert hast. Dein eindringlich schmeichelnder Geruch, deine raue doch sinnliche Stimme, auch der Inhalt dessen, was du mir zu sagen hast, all das Kluge und Gefühlvolle, das…“, sie sucht nach Worten, „das Präzise, wie Mehrdeutige, das Verständliche, wie das Hintergründige… Ich kann mich dem nicht entziehen. Du bist verspielt, unkonventionell und doch erlebe ich eine emotionale Heftigkeit in dir, die meine Fantasie anregt, ein trauriges Rätsel, eine furchtbare Erkenntnis. Und nicht zuletzt bist du schön… Ich meine: Wunderschön!“

Uff. Das traf. Sie weiß mit Worten umzugehen, unerklärlich rührend, zugleich aber unfassbar schwulstig. Doch darum überwältigend mutig, unvergleichlich authentisch in ihrer Gekünsteltheit. Das muss man ihr durchaus lassen. Er hätte ihr das Kompliment gleichsam zurücksenden können, mit einigem mehr an Recht womöglich, würde er seine eigenen Gefühle so in Worte fassen können. Aber jetzt wäre es ohnehin zu spät. Es wäre bloßes Plagiat, bedeutungsarm, eine ehrliche Lüge. 
Also schweigt er. Ohnehin scheint sie noch nicht fertig zu sein mit dem, was sie auszudrücken vermag. Unwillkürlich lächelt er. Es kann keine Liebe sein, die er fühlt. Und doch ist es aufregend, fesselnd, intim. Was findet sie bloß an ihm? Was sie so wortreich beschrieb, muss Irrtum sein. 

Ja, ich weiß, wie das klingt“, gibt sie zu, „aber ich sage es wieder“, sie dreht ihren Kopf zu ihm, wendet sich ihm zu. Traurige Augen mustern sein Gesicht. Wie im REM-Schlaf, doch weit geöffnet, huschen ihre Augen hin und her, als wolle sie sein Antlitz scannen.
Ich liebe dich.
Da! Es sind tatsächlich Tränen. Sie fühlt, was sie sagt. Es ist unglaublich! Warum nur aber schlägt auch sein Herz so schnell und fest, dass es ihm sogar die Erschütterung der Erde durch den entfernten Bass zu übertreffen scheint. 

„Aber damit ich es kann, dich lieben, auch weiterhin lieben kann, werde ich dich nie wieder sehen dürfen.“

Was? Seine Augen weiten sich. Auf einmal kommen auch ihm die Tränen. Verdammter Teufel! Mit welchem Mädchen hat er sich bloß ins Gras gelegt? Und woher kommt auf einmal dieses unbändige Verlangen sie festhalten zu wollen? Als würde sie sich jeden Moment vor ihm in Luft auflösen können, starrt er sie furchtbenommen an. Ohne, dass er es merkte, schließt er seine Hand fester um die ihre.

Nun rollt sie ihren gesamten Körper über das verdunkelte Grün unter sich, um sich ihm in Gänze zuzuwenden. Sie küsst die überrumpelte, flüchtige Bekanntschaft, die starren Körpers ihre Initiative erwidert. Weiche Lippen, glatte Haut. Ein leichter Schweißgeruch, doch nicht penetrant, vielmehr fremdartig vertraut und seltsam anregend. Dazwischen der Geruch eines betörenden Deos, dessen Aufgabe jedoch bereits als gescheitert angesehen werden muss. Der Kuss schmeckt salzig. Hingebungsvoll und verführt schließt er seine Augen, als er etwas Hartes an ihre Oberschenkel stoßen spürt. Alles in ihm jubelt, wünscht sich mehr davon. Im Plane ihren Körper zu umschließen, löst er endlich seinen sie fesselnden Griff. Doch ehe er sie erneut zu ergreifen vermag, seufzt sie ein weiteres Mal – und steht auf.

Auf Wiedersehen, meine Liebe“, sagt sie.
Er aber bleibt noch immer stumm, seine Arme hilflos emporgestreckt und langsam zurück zum Boden sinkend. 
Allmählich schreitet sie so von dannen, raschelnd zwischen hohe Halme hindurch.
Er kennt nicht einmal ihren Namen. Dagegen haben sich drei Zecken an jenem Abend unter seine Haut gefressen.

***

Manchmal fühle ich, ich kann es nicht recht in Worte fassen, als sei die Enttäuschung die wohl größte Quelle der Rührung.

Wie das Gefühl für einen seit Jahrzehnten hoch verschuldeten, in ständiger Aufruhr befindlichen Freund, dem, angesichts seines rettenden, unverschämt unwahrscheinlichen Gewinnglücks, sein Lottoschein gestohlen wird.

Wie die Erkenntnis, dass die ersehnte Liebe zur zärtlichsten, zauberhaftesten und tiefsten Persönlichkeit erst dann wirklich vollkommen ist, wenn sie durch Zeit oder Unglück verloren geht.

Doch dieses Gefühl ist trügerisch, eine bloße Illusion.
Es ist der Dämon einer unterdrückten Erlösungsfantasie.

Es erscheint mir, als ob eine Faszination zur eigenen Trauer mein emotionales Glück befördert, ein masochistisches Bedürfnis nach Versagung, zur Erfüllung reiner Vorstellungskraft.

Ja: Ich liebte diese Persönlichkeit und liebe sie noch immer.

Meine Sonne, ich liebe dich.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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