Die weite Gasse

Sie spaziert nach Hause. Die Hauptstraße entlang, der Feierabendverkehr. Die Autos sausen wie ein nie enden wollender Zug an ihr vorbei. Irgendwo in der Ferne bedeutet eine grüne Ampel Kontinuität dieser Bewegung. Die alten Gebäude um sie herum, Fachwerkhäuser am Rande der Moderne, beugen sich wie schief gewachsene Palmen über den Fußgängerweg. Menschen tummeln sich um sie herum. Angestrengt legt S ihren Kopf zur Seite, als würde sie ihren Nacken dehnen. Ihre Augen sind zusammengekniffen. Ein Glück, ist der lange Arbeitstag endlich vorbei. Auch sie arbeitet abstrakt, wie jede Andere auch. Der Wert für heute ist erzeugt. Sie tat das ihrige.

S schlendert am Bäcker vorbei, der längst seine Pforten für diesen Tag geschlossen hält. Vor ihr der Metzger, hinter ihr die Dönerbude.
Jedes Haus ist ihr bekannt, jeder Schritt bereits schon einmal getan. Der Pflasterstein unter ihren Füßen hält stand. Leise atmet sie ein und wieder aus, ein und wieder aus, ein und aus, durch und durch, rein, raus, Luft und Hitze. Es ist stickig. Ihr ist etwas übel, in letzter Zeit häufiger. Sie wünscht sich in die Leere, die Menschen weg.
S schlendert am Metzger vorbei, der noch geöffnet ist. Vor ihr die Pizzeria, hinter ihr der Bäcker.

Seufzend, wie das Rauschen von Wellen, entlässt sie ihre Anspannung in die Außenwelt. Doch der schwere Stein in ihrem Kopfe zerfasert nur langsam mit ihrer Atmung. Bis sie zu Hause ist, so denkt sie, wird sie den Stress hinter sich gelassen haben. Das Bett und die Katze werden sie willkommen heißen, in gewiss gelöster Stimmung. Doch was ist das?

Eine kaum wahrnehmbare Veränderung hat sich ihr angekündigt, als ein bloßes Grummeln ihres Magens, hinzu ein leichter Windzug aus dem schmalen Gange zwischen Pizzeria und Edelboutique. Ein winziger Durchweg, vielleicht eine Art Gasse, befindet sich dort. Dieser wirkt durchaus organisch hineingelassen, wie eines jener unzähligen Gänge, die zum Hinterhof führen, dort, wo die Mülltonnen warten, wenn sie nicht zur Abholung am Straßenrand bereit stehen. Es ist durchaus möglich, dass dieses Gässchen schon immer hier war. Es ist wohl sogar absolut wahrscheinlich. Vielmehr ist sogar anzunehmen, dass es nicht anders sein kann. Doch S hat es noch nie zuvor gesehen.

Was soll’s, denkt sie sich – und geht hindurch. Fachwerk rechts, Fachwerk links, dort ein rotes Tagg: Steve was here. Hallo, Steve.
Es wird nichts sein, gewiss der erwartete Hinterhof, dort eine blaue, eine schwarze und eine gelbe Tonne. Vielleicht noch eine kleine grüne. Doch zumindest ist S hier erst einmal weg von den Menschen, den Autos, Lichtern und Motoren. Das frequente Rauschen klingt hier bereits leiser, annehmbarer, fast sogar langsamer. Erneut atmet S durch. Die Luft wirkt hier frischer, offener, fast schon ein wenig… salzig. Sie schnüffelt ein wenig, als sie den Gang entlangschlurft. Fischgeruch. Wahrscheinlich vom Metzger. Vielleicht verkauft er auch Meeresgetier.

Endlich endet das Gässchen an einer Art Steinmauer, überwuchert mit Efeu, hierüber eine große Trauerweide. Interessant. Sie dachte, sie war schon überall. Hier muss bald die Parallelstraße sein. Sie versucht sich zu entsinnen, ob sie auf der anderen Seite der Mauer schon einmal die Weide gesehen hätte. Oder die Mauer selbst. Auf jeden Fall ist diese hoch genug, dass sie nicht herüberschauen könnte. Jedoch: links entlang, wohl hinter der Boutique, führt eine enge Treppe hinab, ebenfalls aus Pflasterstein, im Stile der Altstadt. Nun ist sie ja einmal hier und noch hat ihr kein Schild den Zugang verwehrt. Privat mag dieser Zugang vielleicht sein, nicht aber als solcher ausgezeichnet. Wer also sollte es ihr missgönnen zu sehen, was am Fuße der Stufen läge?

Diese also, führen weiter die Mauer herab, die rechterhand mit dem Abfall der Steigung immer höher anzusteigen scheint. Am Ende wiederum eine weitere Biegung der massiven Begrenzung und mit ihr dieselbe der Treppe. Dass hier so viel Platz ist, irritiert S durchaus. In ihren Gedanken sucht sie ihren inneren Stadtplan zu aktualisieren und mit der Treppe in Einklang zu bringen. So recht gelingen mag es ihr jedoch nicht. Immerhin aber, wird die Atemluft mit jedem Schritt hinab noch frischer, noch freier. Das Krachen der Autos weicht einem ruhigen Wellengang an Tönen. Es scheint S sogar, sie könne Möwen hören, in der Ferne nur, von Zeit zu Zeit.

Endlich ist sie angekommen. Vor ihr die hohe Mauer, sicherlich bereits um die 10m hoch. Himbeersträucher ranken etwas vom oberen Rande aus herab, doch käme sie nicht heran, wollte sie etwas von den durchaus sichtbaren, dicken, roten Früchten ernten. Lecker sehen sie aus, doch im Moment unerreichbar. S blickt nach links, den Rest des Abgangs hinab. Doch was sie sieht, kann nicht sein: Drei Stufen nur und die Treppe verschwindet im Sand. Die gigantische Steinmauer rechterhand zieht sich weit in Richtung Horizont, bis diese weit dort drüben verschwindet – ohne ihr Ende je zu verraten, hinabgebogen in Tuchfühlung mit dem Planeten. Doch links hiervon – es ist völlig unmöglich – das Meer, weit und blau, dabei ebenso unbegrenzt mit dem Erdenrund versinkend. Und dies zudem in zwei Himmelsrichtungen, zu S Füßen, ein weißer Strand.

Verblüfft schaut sie sich um. Hinter ihr, über einer weiteren Felswand erbaut, doch letztere natürlicher Art – nicht gepflastert – erheben sich die Fachwerkhäuser im Stile ihrer Stadt. Kein Mensch ist hier zu sehen, der Himmel erstrahlt beinahe im Tone des Wassers, wolkenlos, mit einer Sonne im Zenit, die dabei doch weder brennt, noch blendet. Flache Wellen an der Küste, hohe in der Ferne, verursachen beruhigende Schwingungen des Schalls: Meeresrauschen.
Möwen fliegen über S hinweg, kreischen aufgeregt, doch sanft in ihrer Wirkung auf menschliches Gemüt – oder laufen den Sand entlang, auf der Suche nach kleinen Krebsen, Würmern oder Muscheln. Auch Palmen, wirklich echte, nicht immer schief, doch wiegend im sanften Wind, finden sich hier überall den Fels entlang. Die kleinen, winzigen Kiesel, die in Massen den Untergrund vor dem wilden Wasser bilden, sind durchsetzt mit einigen wenigen Algen und etwas Schlick, doch frei jedweder Form von Fußabdrücken und menschlichen Pfaden.
S weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie lebt nicht am Meer und diese, ihre Stadt liegt nicht an einer Küste. Ihrer Orientierung nach müsste sie nun auf einer weiteren Straße stehen, vielleicht sogar wieder auf derselben, von der sie kam. Die Hauptstraße, so überlegt S, müsste über sie hinweg verlaufen. Dort, wo nun der himmlische Ozean verläuft.

Sie blickt erneut in Richtung Horizont. Dort, irgendwo in der Ferne, weit, weit links ihres Blickes, erhebt sich eine kleine Insel zwischen oben und unten, die zwischen diesen Bereichen ähnlicher Färbung zu schweben scheint. S mustert ihre unwahrscheinliche Umgebung, beruhigt sich sodann selbst:
Entweder, es stimmt, was ich sehe – dann ist es schön. Oder: Es ist eine Halluzination.
Dann kann ich nichts dagegen tun. Es wird verschwinden oder man wird mich einweisen.

S lächelt. Hier kann sie endlich durchatmen. Im Schneidersitz lässt sie sich nieder, entfernt Schuhe und Hose, schließlich Top und Schmuck. Langsam lässt sie den Sand zwischen ihren Fingern hinunterrieseln. In Unterwäsche schließlich, mitten in der Stadt, läuft sie den Wellen entgegen, um sie herum eine sanfte Brise, das Wallen von Wellen, die Unterhaltung der Möwen und das Salz in der Atmosphäre.

Von nun an wird sie häufiger herkommen.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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