Die Geschichte des Friedhofs „Lebenslauf“:
In meiner Stadt, ihr Name ist in diesem Zusammenhang völlig unbedeutend, gibt es eine lange Straße, die dahingehend den hervorstechenden und bezeichnenden Namen „Lebenslauf“ trägt.
Diese Straße, in ihrem konstitutiven Ausmaße, verfolgte einst ein strenges Konzept: Das Leben in all seinen Stationen wurde hier, linkerhand vom Ursprünge aus, nachgezeichnet. Zu Beginn lief man so an der Geburts- und Kinderklinik vorbei, um hiernach die Kindertagesstätte zu erreichen. Darauf folgte konsequenterweise die Grundschule, anschließend eine Gesamtschule. Soweit, so nachvollziehbar, doch man erkennt die grundlegende Disziplin dieser Idee.
Doch nach dieser Schule folgte gewissermaßen eine Lücke im Lebenslauf, stellvertretend für die Diversität adulter Möglichkeiten – Studium, Ausbildung, Arbeit, Versagung. Was hätte all diese Biografien institutionell bloß vereinen mögen? Immerhin aber gab es eine bedingte Lösung des Dilemmas: Leicht versetzt – von der Straße aus hinter dieser Lücke, die aus einer großen Wiese mit einer Erklärtafel darauf besteht – fanden wir ein Krankenhaus nebst Gemeindezentrum, als jene Orte, die diese Erwachsenen des Ortes stets wieder zusammenbringen. Diese Lücke also, die Freiheit bedeuten mochte, kannte durchaus ihre Notwendigkeiten. Die Not zur Organisation und die Existenz von Krankheit verhielten sich so wie Klebstoff zwischen den Atomen, um durch ihre Anstalten Wiederkehr und Zusammenkunft zu ermöglichen. Diese mochten die Lücke im Lebenslauf somit zwar nicht zu füllen, so doch aber zu überbrücken.
Doch weiter geht es: Der Straße weiter folgend, kamen wir nach diesem Wiesenstück zum Seniorenheim und – so musste es kommen – ein angrenzender Friedhof – schon damals bereits größer, als die gesamte Fläche links der Straße zuvor. Der Tod hatte also immer schon überwiegt, wenn der Lebenslauf endet.
Gegenüber nun, also rechts der Straße, waren Wohnhäuser – Eigenheime bis Blockbauten – durch die sozialen Schichten hindurch verteilt, in der Mitte ein Supermarkt.
Und natürlich, an diesem Setting schieden sich seit jeher die Geister: Die einen Städter empfanden das symbolische „Aufrücken“ zum Tode als Zumutung, verweigerten sich dieser Stringenz oder zogen um, während die anderen die damit einhergehende Bescheidenheit und Vergänglichkeit des Lebens lobten. Wir alle, so erkannten jene Alltagsphilosophen tag ein – tag aus, folgen demselben Pfad, sind somit verbunden durch das Leben selbst.
Interessanterweise – und dieses ist nun Grundbedingung dessen was folgen mag – gab es nun noch jene Menschen, die man schlicht „Lebensläufer“ nannte, da sie ihr gesamtes Leben auf dieser Straße verbrachten: Denn nicht nur die Institutionen jenseits der Lücke nahmen sie konsequent mit, auch ihren Job übten sie im dortigen Krankenhaus, dem Gemeindezentrum oder zumindest im Supermarkt aus, verließen somit nie den vordefinierten Pfad jener Einrichtung. Zudem mussten sie, um diesen Titel wahrhaftig zu verdienen, rechterhand des Weges wohnhaft sein.
Diese Leute waren im gesamten Städtchen bekannt, wenn nicht sogar durchaus hoch geachtet, etwas Besonderes, in der Tat, wenngleich etwas Provinzielles an ihnen haftete, wenn man mit gebührender Skepsis auf die Straße blickte.
Nun, eines Tages jedoch gab es einen von ihnen, ich glaube er hieß Gottfried oder Diya al Din, der kurz vor seinem Ende stand, daher vom Altenheim direkt auf den Friedhof blickte – und offenbar durchdrehte. So plante er still vor sich hin, ungesehen von den Nachbarn und Betreuern, um schließlich des Nachts, gut vorbereitet, ein Feuer zu entfachen. Und das erfolgreich: Es steht zu berichten, dass nach jener Tat die ganze Straße niederbrannte, von der Kinderklinik bis zur Seniorenresidenz. Der Lebenslauf war somit Geschichte: Diese Geschichte hier. Es war, wir können es uns vorstellen, eine ausgesprochene Katastrophe, in der viele Menschen starben und der symbolträchtige Ort vernichtet wurde. Viele Jahrzehnte sind seither vergangen und das Ereignis ist in der Lokalgeschichtsschreibung eingegangen als „das furchtbare Schicksal“.
Über den wahnsinnigen Senior ist uns indes nichts weiter bekannt, außer sein rasendes Entsetzen im Hinblick auf seine Erkenntnis, dass lediglich und einzig der verhasste Friedhof intakt geblieben war, als das Buschwerk und die Blumen ausgeglüht waren.
Dieser Gottesacker ist heutzutage natürlich noch größer, umfassender als damals, ja, umgibt nun den gesamten Lebenslauf – links, wie rechts.
Und – wie hätte es auch anders sein können – auch jener irre, alte Mann von damals, der Schuld an der Katastrophe trug, liegt nun dort begraben.
Auf seinem schmucklosen Grabe steht geschrieben:
„Es hat so kommen müssen“


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