Das Marburger Bergvolk

In Marburg an der Lahn gibt es eine Legende.
Jede hier kennt sie.

Zwar mögen einige sie spotten, die Wenigsten ihr glauben schenken – doch niemand, die nicht mindestens länger als ein Jahr hier verbrachte, wird mit Verlassen dieser Ortschaft nicht von ihr gehört haben.

Und das ist durchaus bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die Fluktuation der Einwohnerschaft in diesem Städtchen so hoch ist, wie in keiner anderen Kleinstadt.
Denn immerhin handelt es sich bei über einem Viertel aller Marburgerinnen um Studierende.
Kaum eine von ihnen bleibt.
Doch sie alle wissen – auch wenn sie sonst nichts über dieses Örtchen je erfahren haben – um das Bergvolk.

Um aber auch allen anderen Menschen unserer Welt über dieses – außerhalb des Lahn-Dill-Kreises doch recht unbekannten – Phänomens aufzuklären, habe ich beschlossen endlich ihre Geschichte und ihre Bedeutung für die Menschheit als Ganzes hier zu verschriftlichen.

Wer aber ist jetzt dieses Marburger Bergvolk?

Nun, wie es sich für eine echte Legende wohl gehört, muss diese Frage unbefriedigend bleiben für jene, die allzu klare Antworten ersehnen.
Denn gibt es gewiss keine Liste aller Namen derer, die sich diesem Volke zugehörig fühlen.
Niemand führte Buch über Gebietsansprüche oder über die Anzahl an Mitgliedern jener Sippschaft.
Und nicht einmal dies: Ob es sie überhaupt wirklich gibt, ist noch immer umstritten.

Aber überliefert ist wohl, was ihr Wesen ausmache, was ihr Streben bestimme – Das Marburger Bergvolk sind Revolutionärinnen.

Und wen wundere es?
So hat ja das eigentlich reaktionär beerbte Marburg spätestens seit Wolfgang Abendroth den maliziösen Ruf ~rot~ zu sein.

Aber was erzähle ich?
Was bedeutet es heute schon ~rot~ zu sein?
Was mag Sozialismus schon bedeuten zwischen hohl gewordener Sozialdemokratie und längst überholter Autokratie?
Was hieße denn schon Befreiung, wenn man sie jenseits der Dichotomie von Staat und Kapital noch zu denken vermöge?

Es ist dahingehend geradezu aussichtslos geworden.
Doch so wenig, wie wir diese Fragen wohl beantworten könnten, so sehr steht dagegen zu vermuten, dass das Bergvolk es noch wisse.

Denn die Substanz dieser sagenumwobenen Gemeinschaft speist sich aus jenen desillusionierten Altlinken, die einst eine Lösung fanden.
Und zwischen der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen und der frustrierenden Regression der eigenen Genossinnen fanden sie gleichwohl ihren Weg:
Sie zogen in den Wald.

Und jede, die bereit sei, den Klamauk der Szene hinter sich zu lassen, mag ihnen noch immer folgen können.
Denn es heißt, das Bergvolk finde alle, die aufrechten Herzens und wachen Verstandes nach der Revolution lechze.

Aber auch, wenn man weit entfernt sei, jener Befreiung der Gesellschaft entgegenzusehnen, so mag man ihm begegnen.
Nicht persönlich, nicht einer Kämpferin alleine, nein – sondern die Gesänge im Wind, das Flüstern im Rauschen der Bäume, das Beben der feierlichen Tänze im Geäst, genügte einjeder als Beweis ihrer Präsenz.

Und wer genau hinhöre, die verstehe sogar die Botschaft, die diese Gemeinschaft an uns sende – wenn wir bloß dazu bereit seien:

„Wir kommen, um mit euch zu kämpfen.
Wir kommen, wenn ihr uns braucht. 
Wenn die Reaktion die Zukunft raubt,
oder die Freiheit naht dem Menschen.
Wir kommen.
Wir kämpfen.

Mit euch.“

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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