Demokratie und Sozialismus

Zu Fragen der Vereinbarkeit und Unausschließbarkeit:

Da in der bürgerlichen Tradition die Unterscheidung zwischen Bourgeois (Privatbürger) und Citoyen (Staatsbürger) recht prägend war (Rousseau), umgekehrt im Sozialismus aber von Bourgeoisie (Kapitalistenklasse) und Proletariat (Arbeiterklasse) die Rede ist (Marx), war die realsozialistische, praktische Folgerung oft, dass mit der Abschaffung des Kapitalismus, sprich: der Bourgeoisie, der Proletarier mit dem Citoyen in eins fallen muss und Privatheit somit ein reaktionäres Überbleibsel bürgerlichen Denkens und Lebens sei.

Das ist ein konstitutioneller Fehler vieler dieser Gesellschaften.
Ohne Privatheit, einer Sphäre des Nicht-Öffentlichen, ohne den viel geschmähten Individualismus gibt es keine Demokratie.
Der Sozialismus wollte aber immer die Vollendung derselben sein.
Eine Volksrepublik aber ohne Individuen ist keine.

Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel muss also unbedingt unter Beibehaltung des privaten Lebens stattfinden, um befreiend zu wirkend.
Diese Einsicht trennt mich leider auch von vielen internationalistischen Genoss:innen, die Individualismus eher als Krankheitssymptom westlicher Gesellschaften identifizieren.

Ich bestehe aber grundsätzlich darauf.

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Der richtigen Erkenntnis, dass eine Demokratie ohne Sozialismus keine richtige darstellt, weil nur halb (nämlich politisch) vollzogen, folgt oft die falsche Folgerung, dass demgegebüber ein Sozialismus ohne Demokratie vorzuziehen sei, weil zumindest die materielle Basis stimmt.
Das ist insofern richtig, wie rein technisch eine Demokratisierung der Wirtschaft leichter fällt, wenn die dazu nötigen Enteignungen bereits vollzogen sind.

Da real der politischen Diktatur in der Regel aber keine demokratische Wirtschaft gegenübersteht (einzige Ausnahme vielleicht im historischen Jugoslawien) sondern ebenfalls einer personalen Diktatur unterliegen sind diese Gesellschaften oft nicht einmal zur Hälfte demokratisch.
Das ist ein grundlegendes Problem, wenn man so einfach mit der Formel Demokratie ohne Sozialismus / Sozialismus ohne Demokratie hantiert.

Die bürgerliche Demokratie ist in der Tendenz freier als sozialistische Diktaturen.
Daraus lässt sich allerdings nicht schließen, dass Sozialismus und Demokratie unvereinbar wären.
Träfen politische und wirtschaftliche Demokratie aufeinander, so wäre dies eine wahre Befreiung, eine echte Demokratie, ein menschlicher Sozialismus.

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Das große Problem der Konstitution der frühen Sowjetunion waren nicht ihre Institutionen.
Die Duma z.B., die keine Modernisierung wollte, oder die Partei, die zu viel Enteignungen durchsetzte oder gar die Sowjets, die zu partikularistische Interessen vertraten.
All das waren nicht die Probleme.

Das Problem war einzig, dass sich der Kampf dieser Institutionen im Gewühl des Krieges und des Hungers unter Bedingungen einer absoluten Unterentwicklung der Produktivkräfte in einer Alles-oder-Nichts-Logik verstrickte.
Die Partei setzte sich schließlich durch, statt dass sich eine Verfassung realisierte, die Gewaltenteilung kennt.

Ein wirtschaftlich zwar nicht liberales System, das politisch aber Checks und Balances kennt, hätte dem Sozialismus eine stabile Basis geben können, die flexibel und demokratisch auf Veränderungen hätte reagieren können.
Diese Chance wurde vertan.

Die Sowjetunion wurde autokratisch, sperrig und brach letztlich zusammen.

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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