Der Minenführer von Idar-Oberstein

Der moderne Sisyphos:

Als ich noch klein war, irgendwo zwischen Kindergarten- und Grundschulalter, da gab es diese Phase, in der ich mich außerordentlich für bunte Steine Interessierte. Ich sammelte Minerale und Gesteine, Kristalle und Erze, die ich fälschlicherweise Edelsteine nannte, wie Rosenquarz, Amethystgeoden, Onyxe und Wismuth. Ich interessierte mich für ihre Beschaffenheit, ihr Vorkommen, den Ursprung ihrer Farben und Lichtspiele. Es war somit eines der ersten, doch lange nicht letzten kurzen intellektuellen Obsessionen für das, was wir in der Welt vorfinden können und einem kindlichen Geist als Wunder gegenübertritt. Eines Tages dann, innerhalb eines Familienurlaubes, reisten wir in dem Zusammenhang nach Idar-Oberstein, wo es von solcherlei Erzeugnissen nur so wimmelte: Natursteine, Schmuck und allerlei Tand. Es erschien mir als das Paradies der Haptik und optischen Verführungskünsten toter Materie.

Der Höhepunkt dieser Reise aber stellte eine Führung dar, tief in einen Berg hinein, über Stollen und Minen, in denen vor Zeiten noch jene hier beheimateten Materialien herausgebrochen wurden, die den lokalen Markt noch heute fluteten. Der Mann, der uns dort lehrte, erschien mir als ein Weiser, ein Meister des Wissens über Gestein und Farbe, der durchaus spannend, kindgerecht spaßend, doch profund kennend von allem berichtete, was die durch künstliches Licht durchbrochene Dunkelheit der Höhle verbarg. Ich erfuhr vom Leben und Arbeiten der Bergleute, wie auch vom jahrtausendelangen Entstehungsprozess der Mineralien, bis hin zu oberflächlichen Erkenntnissen über die atomaren Eigenschaften der Materie. Es war faszinierend, bahnbrechend, genial. Ich saugte die Eindrücke ein, die Kühle Feuchte der unterirdischen Luft, die widerhallende Stimme des Expeditionsleiters, vor Allem aber all das, was er zu berichten wusste und die schimmernden Reflexionen der noch immer in Stein gefassten Kristalle.

Doch mit großem Wehmut muss ich berichten, dass ich bloß einige Jahre Später, im Rahmen eines Schulausfluges, nach Idar-Oberstein zurückkehrte. Und nicht bloß das: Sogar die besagte Mine von damals wurde erneut besucht, im Kreise meine Mitschüler, die nun alle die Erfahrung teilen durften, die ich bereits machen konnte. Warum aber spreche ich von Wehmut? Vielleicht, so mögt ihr vermuten, ist die Romantik der Erinnerung verflogen, als ich erneut die Lokalität betrat, die doch so gar nicht mehr so magisch erschien, wie in meinen Gedankenbildern. Eventuell ist es auch möglich, dass ich in meiner Faszination alleine dastand, meine Mitschüler nicht sahen, was ich sah, nicht teilten, was ich empfand. Doch nein, nichts von beidem ist wahr. Die Führung war erneut, genauso wunderbar wie damals und meine Freunde deckten sich, wie ich, ein mit allerlei Steinen, die auch ihre Begeisterung weckten. Wo aber war der Fehler?

Der Fehler lag in der Wiederholung. Um genauer zu sein, es war der Führer durch die Tiefen. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich tatsächlich um denselben Mann von damals handelte, der mir so allwissend, so groß erschien. Doch viele der Inhalte, ja sogar der Formulierungen, Witze und Sprüche, Vergleiche und Anekdoten, kamen mit gespenstisch bekannt vor. Doch erst im Nachgang wurde es mir schlagartig klar: Hat dieser Mann, in seinem Wissen und seiner Neugier, die ich in ihm als die meine erkannte, seit jenem Jahr damals, Werktag für Werktag, mehrere Führungen pro Tag, Stunde um Stunde die gleiche Rede gehalten? All die Emotion und Begeisterung, die ich vernahm, wurde sie jedes Mal von neuem hervorgerufen, oder gar bloß vorgetäuscht? Sprich: Ist dieser Mann in dem Zwange gefangen dieselbe Geschichte, immer und immer wieder erzählen zu müssen, wie ein Sprechautomat mit verschütteten Gefühlen? Ist all das Wissen, dass sich in seinem Gehirne speichert womöglich begrenzt auf das wenige, was er jedes Mal aufs neue niederrattert, zum bloßen Zwecke des Verdienstes? Oder wollte er doch mehr als das?

Und auch ich sah: Werde auch ich eines Tages aus einer meiner vielen kleinen Obsessionen eine große machen müssen? Eine Obsession, die alle anderen verdrängt, meine Persönlichkeit übernimmt und mich zum Sprechautomaten degradiert?

Und ja, rückblickend betrachtet ist es diese Angst, der ich tagtäglich fliehe: Keinen Job habe ich je länger als drei Jahre ausgehalten. Wie kann von mir, wie kann von einem Menschen der Gattung Mensch überhaupt erwartet werden, jeden Tag aufs Neue dasselbe zu tun, dieselben Waren zu beraten, die gleichen Dinge zu hämmern, dieselben Reden zu halten? Wie eintönig also ist das Leben eines Minenführers von Idar-Oberstein. Wie schlimm sein Schicksal?

Ja, wir müssen uns diesen Minenführer von Idar-Oberstein als unglücklichen Menschen vorstellen.

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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