Die verräterische Liebe zum Symptom

Es gibt – neben einem durchaus begründeten Argwohn gegenüber dem kaufmännischen Interesse der Pharmazie, welche in der Vergangenheit durchaus allzu leichtfertig mit Wundermittelchen um sich zu werfen pflegte und gerade dadurch allerhand gravierende Nebenwirkungen und Suchtproblematiken zu verantworten hat – auch einen regressiven, verinnerlichten Hass gegen Medikation jeglicher Art. 
Besonders auch unter uns Neurotikern ist er verbreitet.

Diese irrationale Abwehr äußert sich nicht selten im Gestus eines aufgeklärten Protests gegen die bloße Bekämpfung des Symptoms statt seiner Ursache – und doch ist sie zugleich Ausdruck eines unbewussten Mechanismus: 
Der Identifikation mit dem Leiden.

Es mag zunächst unsinnig erscheinen, doch eine gelungene medikamentöse Einstellung verheißt dem Betroffenen nicht zuletzt auch eines: Kränkung. 

Nicht nur, weil der eingeübte Masochismus längst zur tragenden Säule der eigenen Identität geworden sein mag, sodass das Absterben des Symptoms unweigerlich eine Erschütterung des Selbst bedeutete.
Denn wer bin ich noch, wenn mein langjähriges Lebensgefühl einst zu schwinden drohte? 
Sondern auch, weil das Verschwinden des Symptoms als eine Form des doppelten Kontrollverlusts erlebt werden kann:
Nicht ich habe demnach meine Kontrolle über mein widerspenstiges Gehirn zurückerlangt, sondern die Chemie hat erledigt, wozu ich selbst nie fähig war.

In dieser Logik wird ein gesundes Erleben nicht ersehnt, sondern abgewehrt, misstraut – weil es den eigenen narzisstischen Schmerz berührt:
Die Substanz war stärker als mein Wille. 
Und mehr noch – das Ding, das die Wunde einst schlug, überlebt auch noch jene Kräftigung meiner Seele durch die Tablette. 

Gerade deshalb verbirgt sich diese nicht eingestandene Demütigung häufig hinter wohlklingenden Argumenten einer radikalen Psychiatriekritik:
Profitinteresse, Funktionszwang und Individualisierung einer im Grunde systemischen Schuld. 
Nichts davon ist falsch – jedoch verzerrt und verhindert sie in ihrer Verabsolutierung das utopische Begehren nach Heilung, sowie im Mindesten jenes nach der Freiheit vom Symptom.

Denn was zu einfach funktionierte, so lautet das heimliche Dogma des neurotischen Stolzes, könne nicht richtig sein. 

Es muss zwar betont sein, dass es tatsächlich Drogen gibt, die die Ekstase in eine grauenvolle Falle verwandeln mögen, dass sogar viele Medikamente tatsächlich gefährlich sind, überdosiert, untererforscht, aggressiv vermarktet, und dass der Kapitalismus selbst solcherlei Zustände hervorbringen mag, die letztlich nach chemischer Regulierung erst verlangen – auch all dieses bleibt wahr. 
Aber es entschuldigt nicht die individuelle Abwehr gegenüber einem Zustand der Linderung zumindest als Möglichkeit.

Denn welches göttliche Gesetz sollte es uns verbieten, dass jemand, der siebzig Jahre mit einem bestimmten Schmerz gelebt haben musste, ihn im einundsiebzigsten Jahr ablegte – wenn dereinst das Mittel hierzu vorhanden sei?

Nein – die Kritik an der Basis kann die Kritik am Symptom nicht ersetzen.

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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