Du der Käfer

Ich adoptierte einst einen Käfer.

Als ich ihn bekam, war er noch winzig. Er war mit bloßem Auge kaum zu erkennen und auch sein Leib glänzte noch blass, schien beinahe durchsichtig.
Er sprang dergestalt oft hoch empor, von der Luft getragen, wie schwimmend im Wasser. Es war zunächst noch schwierig ihn an mich zu gewöhnen, doch bald schon hörte er auf seinen Namen: „Du“.
Alsbald hüpfte Du vergnüglich auf meine Hand, wenn ich ihn rief.

Du wuchs schnell heran.
Nach bereits wenig Tagen glich er einer kleinen, roten Wanze, einen einzelnen weißen Punkt stolz auf seinem Rücken tragend. Er sprang noch immer hin und her, doch die Höhe von einst war zu dieser Zeit bereits nicht mehr gegeben. Zudem musste er sich hüten:
Allzu oft rettete ich ihn vor den Klauen eines Marienkäfers, der drauf und dran war Du zu verspeisen.

Doch er überlebte und wuchs weiter.
Als er schließlich seinen zweiten Punkt erhielt konnte er bereits die meisten Kämpfe mit besagtem Marienkäfer für sich entscheiden.
Und mit Erhalt seines dritten Punktes war er letztlich gar so groß wie ein menschlicher Daumen – sprang zwar nicht mehr, sondern krabbelte nur noch, doch war Du dafür in der Lage einfache mathematische Gleichungen zu lösen.

Zuletzt änderte sich seine Erscheinung erneut:
Sein roter Wanzenpanzer gedieh länger, ein grüner Schimmer legte sich über seine Haut. Einen schuppigen kleinen Schleichenkörper mit Käferbeinchen bildete Du nun aus.
Noch immer liebte er wohl die Wärme meiner Handinnenfläche und rollte sich vergnüglich in ihr ein, während wir uns über Kants Transzendentalen Idealismus unterhielten.

Aber ach.
Ich bedaure an dieser Stelle mitzuteilen, dass Du im Verlaufe der letzten Nacht unerwartet verstarb.
Mein Käferkind wurde somit bloß einen halben Meter lang. Ich erinnere noch an sein letztes Wort an mich:

Papa.

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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