Galgentanz

Ein Kapitel aus dem Roman „Widergänger – ein gefährdet-utopisches Gothic Novel“:

Coming soon…

Zwischen der alten Burg, erhaben und massiv und dem verlassenen Media-Center, gläsern und weit, befindet sich in einem unbekannten Dorf nahe der Autobahn durch das heutige Enchevê hindurch, die seit der Abschaffung des Individualverkehrs jenseits des Rades ein beliebter Wander- und Fahrradweg für Naturreisende geworden ist, der Galgen aus längst vergangener Epoche, noch vor der Neuen Zeit der Vorgeschichte, an dem über Generationen hinweg die Außenseiter des Volkes oder in Ungnade gefallene Beamte und Ständische zu baumeln pflegten, wenn sie sich zu weit von dem ihnen zugestandenen Platze zu entfernen wagten, in ihren Ambitionen scheiterten oder willkürliche Missgunst sich über des Volkes Geiste legte. Nicht revolutionärer Eifer also, sondern bloßer Ausdruck alter Ordnungspolitik des einstmals Gegebenen zeichnet dieses Gerüst aus, vergliche man es mit der doppelschneidigen Guillotine späterer Zeit, die ihre Verbrechen zumindest aus dem Antriebe zur Überwindung alter Ordnung beging, dabei jedoch zuletzt die Kinder der frühen Revolutionen verschlang. Gemein ist diesen Gerätschaften doch gewiss die reine Folge schlichter Tat von Richtern und Henkern: Der Tod.
Was würde aber geschehen, würde sich der Mensch dereinst selbst in Richter, Henker und Verurteilter zugleich verwandeln? Davon mag womöglich die folgende Erzählung berichten, dessen Beginn sich an jenem Galgen ereignet.

Das nun brachliegende Geisterdorf umringt die Burg entlang des Hügels, wie Efeu einen Stamm emporwächst oder das Netzwerk eines Blobs sich auf der Suche nach Nahrung vortastet und klettert so, grazil die steilen Abhänge als Rückwand und Skelett nutzend, den zentral gelegenen Berg hinauf. Riesige Steinmauern hierauf zeugen von einer primitiven Welt, die sich doch visionär ihrer Herrschaft über die Leiber ihrer Untergebenen bediente, um Großes zu schaffen. Not, Krieg und Abhängigkeit schufen dieses steinerne Zeugnis, welches die Zeichen der Vergänglichkeit, noch am Ende der Vorgeschichte selbst, durchbricht.
Die Geister der Verstorbenen jenes Ortes materialisieren sich in den grünen Hallen dieses Komplexes, umzäunt von bemoostem Kopfsteinpflaster und rankenden Schmarotzerpflanzen. Auf dem Gipfel dieser Schande menschlicher Macht über die ohnmächtigen Geschwister, erhebt sich das rechteckige Tor, das doch ins Nichts zu führen scheint, aus maroden, doch stabilen Holzbalken. Dieses unscheinbare Konstrukt soll seine letzte Mission noch nicht beendet wissen, denn zwei lebende Menschen, ihrerseits ein Liebespaar, ersuchen den alten Galgen im Wunsch sich seines Fluches zu bedienen.

Jonathan und Mina, die ihr Kind im Krieg verloren und sich gegenseitig zur Geißel wurden, sind des Lebens müde, doch ist die Lust am Leben bei einem der Beiden noch nicht zur Gänze erloschen. Und doch, schreiten sie gemeinsam zum Hügel, in jeder Hand einen Strick, einen Knoten und die kunstvoll geknüpfte Schlaufe. Es folgen ein Kuss und viele Tränen, ein apathischer und ein trotziger Blick. Er, der die Last des Scheiterns nicht mehr erträgt und sie, die ihr altes Leben, frei von Scham und dem Schmerz allgegenwärtiger Erinnerung, zu Tode vermisst, werfen ihre Seile über den hohen Balken, im Wissen um ihr baldiges Schicksal, das sie selbst erwählten.


Das schicksalsreiche Paar, das hier ihr eigenes Leben beenden will, welches doch aufs Engste verbunden ist mit der Geschichte der Republik selbst, die an ihrer statt zur vollen Blüte drängt, lernten sich dereinst kennen, im Alter von 15 und 16 Jahren, 10 Jahre noch vor der Entstehung der großen Gemeinschaft, die nun die ganze Welt umfasst. Denn in jenen Tagen der Entdeckung ihrer gemeinsamen Liebe wurde zugleich auch der Grundstein gelegt, die zu genau jenen Ereignissen führten, die letztlich die Welt vereinte.

Voller frischer und junger Leidenschaft, in der Erfahrung des Allerschönsten, sah das junge Paar erfüllt vom größten Optimismus in die Zukunft, während sich mit ihnen, auch die 2. Föderale Republik und die Sozialistische Konföderation zur 3. Föderalen Republik zusammenschlossen, die nunmehr ein Drittel aller Territorialmacht des Planeten in sich vereinte. In der Stadt Menemen, dem Ort ihrer gemeinsamen Herkunft, eines Teiles der ehemaligen 2. FR, hieß jene Vereinigung einen großen Schritt im Kampf gegen das pannationale Kapital.
Während in längster Vergangenheit lediglich das republikanische Erbrecht gerade bloß, doch fortschrittlich genug, dazu beitrug, dass zumindest private Familienunternehmen nach dem Tod ihrer Väter statt an ihre Kinder, an die Belegschaft selbst übergeben worden sind, hieß das Erscheinen der dritten Republik eine fristlose Enteignung aller Unternehmen und privatwirtschaftlicher Gesellschaften innerhalb seines Gebiets, zugunsten eines temporären Marktsozialismus. Dieser jedoch wurde so angelegt, dass er sich selbst in der Form abzuschaffen vermag, dass Fusionen und Kartellbildungen unter Auflagen maximaler Demokratisierung strengstens gefördert wurden, sodass langsam – und wie von selbst – die Zentralisierungstendenz des sozialisierten Kapitals zu einer Planwirtschaft heranreifte. Dieses geschah aufgrund der reifen Vorsorge und rechtlichen Bedingungen doch in aufgeklärter, demokratischer Organisation, als universelle Produktions- und Allokationsgemeinschaft.

Und während die Gesellschaft erwachte in solidarischem Aufbruch, zog es auch unsere Liebenden in die innersten Zentren dieser Entwicklung, um im Garten- und Landschaftsbau ausgebildet, gemeinsam in kollektiver Betriebsamkeit, die sich ankündigende Utopie zu errichten und ihre Schönheit zu mehren. Jahre vergingen unter diesem Vorzeichen, in denen sie gemeinsam die Städte neu erfanden, Wasserfälle und Gärten anlegten, den gemachten Stahl mit dem organischen Leben verbanden, als wenn die Göttin des Fortschritts selbst sich mit ihrer Mutter, der Göttin der Natur, versöhnte.
So sehr sich jedoch in diesem Teil der Welt die Lage zum Besten zu wenden geneigt schien, so förderte doch der vom Klassenkampf geplagte Nationenbund außerhalb der 3. FR, ausgerechnet jene regressiven Strömungen innerhalb der jungen Republik, die sich fortan als Traditionale Bewegung verstand. Diese verstand sich als Bewahrer und Wiederhersteller, des verlorenen Reiches des Kapitals und der Nationen. Die Traditionalen, als Verdrängte der fortschreitenden Entwicklung, entstanden zwar schon immer aus dem Volke der Republik selbst heraus, rekrutierten sich dabei insbesondere aus dem alten, entmachteten Unternehmeradel heraus, doch verstiegen sich diese durch die ihnen zukommenden Mittel von außen dazu, schneller anzuwachsen und Verbündete in allen vergangenen Klassen zu finden, als es den Republikanerinnen lieb sein durfte.

Allmählich zerfiel so, fünf Jahre vor der Verfassung, das große republikanische Bündnis im globalen Bürgerinnenkrieg, ausgerechnet in jenem Jahr, das doch das schönste für Mina und Jonathan hätte sein sollen: Das Jahr, als sie ihre Tochter Lucie zur Welt brachten. Zu ihrem Bedauern und ihrer Katastrophe war die junge Familie so also noch im selben Zyklus gezwungen, noch tief im kalten Winter, aus ihrer Heimat Menemen vor den Traditionalen nach Kalip zu fliehen.
Untergekommen in notdürftigst eingerichteten Baracken am Rande einer letzten noch vollständig gehaltenen, republikanischen Stadt, dessen Not in den Slums sich in alle Himmelsrichtungen ausdehnte, überlebte ihnen ihr geliebtes Kind nicht die zu allem furchtbarsten Unglück kälteste Zeit seit 40 Jahren.

Doch noch ehe die Ödnis der bitteren Realisierung dieses Schicksals das Paar zur Gänze vereinnahmen konnte, bot sich ihnen in der öffentlichen Welt doch eine letzte Gelegenheit: Um sich der Trauer und dem Elend dieser Zeit nicht zu unterwerfen, schloss sich das gebeutelte Paar, 3 Jahre vor dem Ausruf der letzten, der großen Republik, lebensmüde, doch vorwärtsstrebend der Miliz Rizgarî in Kalip an, um sich ihre Heimat zurückzuholen, im Bündnis mit gerade jenen proletarischen Schichten, die sich im Inneren des feindlichen Nationenbundes neu formierten und für sich selbst nach Befreiung strebten und diese in der 3. FR sehnsuchtsvoll erblickten. Als zuletzt, nach vielen Kämpfen, Eroberungen und Unruhen, die Revolution nach Jahren endgültig siegte, konnte ein neuer Aufbruch und Wiederaufbau, sowie schließlich doch allmählich auch der Alltag zurück in das nun wieder republikanische Menemen zurückkehren.

Und erneut zog das Paar aus, pflanzte, bewässerte und gestaltete, zeichnete, plante und formte das Paar gemeinsam mit ihren Genossinnen die zerrüttete Heimat, auf dass sie erneut blühte und gedieh. Doch erschien ihnen die Farbe nicht mehr so satt wie einst, die Zukunft nicht mehr so strahlend wie eben, das Leben nicht mehr so vielfältig, wie vor Lucies tot. 
Nach 10 weiteren Jahren der Konstitution der Republik auf verfassungsgerechtem Boden und der verschütteten Liebe des geschichtserfahrenen Paares aus Gewohnheit, wurde sich das Paar langsam, aber unausweichlich, gegenseitig zur untragbaren Last. Der brutal einschlagenden Trauer musste Zorn weichen, wie auch aus der einstigen Liebe verdrängter Hass entsprang. Doch statt sich zu trennen, ein jede sich die Freiheit eines neuen Lebens zu wählen, hefteten sie sich aneinander und zogen sich hinab in die tiefste Hölle, wie es sie nur auf Erden zu finden gibt. Und bis zum heutigen Tag schritten sie fort, um nun, in gegenseitiger Übereinkunft, ihrem Ende entgegenzueilen.

Jetzt also finden sie sich wieder an jenem schönen Tag im frühen Sommer des Jahres 21 n.d.V., an dem die Bienen und Blumen die offenen Flächen und die kleinen Ritzen zwischen den Gebäuden zieren und die ersten Sonnenstrahlen des Morgens ihren Weg auf die feucht-glänzende Wiese finden. Seufzend setzt sich Jonathan zu Boden, Abschied nehmend von der Schönheit der jungen Welt im Kommen. Mina indes, schwarz gekleidet, in einer Dynamik aus körperbetont und weit, legt treusorgend, als hegte sie keinerlei Groll mehr gegen ihren Gefährten, ihren Arm um seine Schulter und küsst zum Lebewohl die Stirn des Todgeweihten, der im spielerischen Kontrast zu ihr und der gemeinschaftlichen Stimmung ein grünes Hemd und golden schimmernde Shorts trägt. Ein erleichtert-sehnsüchtiges Lächeln erscheint wie eine Vorahnung auf ihrem von Trauer, Entbehrung und Alter gezeichneten, doch noch immer schönen Gesicht.

Aus dem Rucksack des Tiefenttäuschten kramt sie die kleine runde Musikbox hervor und stellt sie zentral unter ihren Galgen, genau zwischen die ihnen reservierten Plätze. Ein letztes Lied aus Cello und Synthesizer, aus Orgel und Kickdrum umtanzt die Sterbenden, die es diesen Klängen gleichtun. Es ist ein ruhiger und bescheidener Tanz, ohne große Schritte und ausladende Gesten, doch eng und gefühlvoll, mit dem Glück, der am Ende der Reise Angekommenen, erfüllt.
Für einen Moment erscheinen um sie herum all jene Geister der Versklavten und Geknechteten altehrwürdigster Zeit, schwebend aus den Mauern der Burg tretend, um ihre Trauer kundzutun, dass freie Menschen sterben, während sie selbst doch in Unfreiheit zu leben gezwungen waren und nun nicht mehr aus dem Tode zurückfinden, wo doch endlich die Unfreiheit schlechthin beendet ist. Unfähig zu tauschen, lauschen sich die Generationen in ihrer Gram und fühlen so ihre Verbundenheit in dieser historischen Ungerechtigkeit. Bald schon wird einer von den Liebenden zu ihnen gehen und sich der Klage anschließen. Ein weiterer aber mag verbleiben.

Am Ende des Tanzes erblicken sie erneut das Licht der Welt, von allen Geistern verlassen, allein im Leben. Während Jonathan zweifelt, ob der Richtigkeit ihres Tuns, ist es Mina, die keine Rückkehr mehr erwägt. Ihrer Entscheidung ergeben, beginnen sie ihren letzten Marsch auf die kleine hölzerne Treppe am Rande des Galgens. Wie in Choreografie schauen sie sich an, in letzter, ausgehobener Liebe erfüllt schreiten sie zur Tat. Ein Knacken und Röcheln folgen ihrer Handlung zusammen mit dem Strampeln der Körper unter den Blicken der Geschichte. Nach 10 Sekunden bereits setzt ihnen die gnädige Bewusstlosigkeit ein. Nach weiteren 10 Minuten ereilt sie der Tod.

Nach nicht weniger als 10 Stunden hiernach streckt die erhängte Mina im Impuls ihres Willens ihre Hand aus und ergreift das wohlplatzierte Messer, versteckt in ihrem linken Stiefel. Entschlossen schneidet sie den Strick über ihrem Kopf entzwei. Sie stürzt zu Boden, bloß um sich erneut zu erheben und sich ihr altes Leben zurückzunehmen.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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