Postmoderner Antisemitismus

Genese eines Gerüchts:

Zum Verständnis dessen, wie sich der moderne Antisemitismus in der Postmoderne äußert, gehen wir in aller Kürze einen historischen Schritt zurück: Bis 1945 in Deutschland, unter der Ideologie des Nationalsozialismus, fungierte der Jude, als biologisch determinierte Rasse – nicht als Religionsgemeinschaft – als Inbegriff der Moderne in ihrer schädlichsten Form.

Zu gleichem Maße wurde dem Juden so zugeschrieben für Liberalismus und Kommunismus verantwortlich zu sein, mehr noch, als heimlich herrschende Clique der Welt jene Fäden zu ziehen, die die Gesetzmäßigkeit des Kapitals, der Konkurrenz und der Anhäufung von Arbeit hervorbringt, um zugleich davon zu profitieren – und das über die engstirnigen Grenzen des Nationalen hinaus.

Die These dieser Weltverschwörung entfaltete sich innerhalb der Ideologie der Nazis zu dem Imperativ ihrer Vernichtung, um damit die konstitutionelle Unordnung politischer Ökonomie zu beseitigen, volkseigene Homogenität und Sicherheit herzustellen ohne Krise und unter ständiger Expansion des Lebensraums des eigenen Volkes, als Rasse.

Nach der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Reiches unter Hitler und der NSDAP 1945 war diese Idee zwar nicht aus der Welt, so doch mindestens unter Strafe der eigenen Integrität desavouiert. Nach einer Zeit des Schweigens folgte die Aufarbeitung, zumindest in Westdeutschland, mit einem weiteren Effekt der Tabuisierung offenen Antisemitismus‘.

Während sich zu Beginn der Staatsbildung Israels die deutsche Linke auf seine Seite stellte, änderte sich ihr Wohlwollen, als der Klassenkampf der Sowjetunion unter Stalin sich international auf einen Kampf der Völker zu beziehen begann, schwammig blieb hier jedoch, ob es sich bei diesen Völkern im Plural um Rassen, Nationen, Sprachfamilien oder Kulturen handelte.

Doch dieser Interpretation beugte sich die deutsche Linke hingebungsvoll, auch da, wo sie sich antistalinistisch gerierte, inklusive versuchten Anschlägen von roten Terrorzellen auf jüdische Gemeindehäuser (1969 durch die Tupamaros West-Berlin) und der Zusammenarbeit solcher mit der Fatah (1970 durch die Rote Armee Fraktion).

Innerhalb kritischer deutscher Linken, namentlich der antideutschen und antinationalen Strömungen (ab 1989, im Rahmen der drohenden Wiedervereinigung Deutschlands entstanden), wurde dieser Drall der Linken zum Antizionismus gerade in Deutschland im Zusammenhang mit unbewusster Schuldabwehr diskutiert: Nachdem man sich gegen den Antisemitismus der Elterngeneration erfolgreich zur Wehr gesetzt hat, wähnt man sich selbst als darüber erhaben.

Mehr noch: Wenn letztlich sogar noch der Jude selbst zum neuen Nazi wird, dem es das Handwerk zu legen gilt, geriert jeder Antizionismus zur Revision und Rehabilitation jedes deutschen Antisemitismus. Das Gerücht über den Juden kehrt zurück: Vielleicht sind sie ja doch die Bösen.

Warum aber, so ließe sich nun fragen, Ist es die Linke gerade auch auf internationaler Ebene, die so unversöhnlich antizionistisch fehlgeht? Schuldabwehr, gerade unter den Siegermächten GB, Frankreich, USA und Sowjetunion, kann hier nicht der bedingende Impetus sein.

Zweierlei aber ließe sich anmerken: Zum einen ist der Antiimperialismus sowjetischer Prägung, aber später auch der der blockfreien Staaten unter Führung Titos, Nassers, Nehru und Sukamo, auf Verbündete angewiesen.

Nach dem Sechstagekrieg 1967, als die arabischen Mächte (insbesondere Ägypten, Jordanien, Syrien) einen erneuten Krieg gegen Israel vorbereiteten, woraufhin dieses präventiv zuschlug und den Sieg davontrug, hat sich die globale Linke strategisch umorientiert. Während der jüdische Staat klein und seine Population gering ist, erscheinet er als überlegen, während der arabische, türkische und persische Teil der Welt, als muslimische Welt, enorm und als potentielle, noch unterlegene Verbündete viel Wert ist.

Doch während hier die Religion noch als antikommunistische Ideologie verdammt wurde, zumindest von Seiten der SU, hat sich dies spätestens nach dem Untergang dieser Macht (1991) gewandelt: Selbst das iranische Mullahregime, sowie die Terrororganisationen in Gaza Hamas und islamischer Dschihad, erhalten den Ruf heldenhaften Widerstandes gegen den imperialistischen Westen, dessen Brückenkopf Israel darstellen soll.

Hier kündigt sich jedoch bereits der zweite Aspekt an, der sich als eine Art Schuldabwehrantisemitismus der ehemals alliierten Welt beschreiben lässt, zumindest innerhalb der westlichen, nichtdeutschen Linken: Nicht die Schuld am Antisemitismus wird verdrängt, sondern am Kolonialismus, später: des Imperialismus, noch später: Postkolonialismus.

Im durchaus ehrenvollen Vorsatz die vergangenen Verbrechen des Kolonialismus, den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas oder der Sklaverei afrikanischer Mitmenschen zu sühnen oder zumindest in Zukunft zu verhindern, drängt sich erneut das Gerücht über den Juden auf: Da ist dieser Ort, der mehr noch als Frankreich, mehr noch als Großbritannien, mehr noch als die USA rassistisch sei, kolonialistisch sei, Apartheid vollziehe, genozidal sei: Israel.

Und zu guter Letzt, doch gewiss nicht am unwichtigsten, ist da noch die erwähnte islamische Welt. Als Nochfolgestaaten vergangener doch gescheiterter Reiche, des persischen Reiches (bis 651), das Kalifat der Abbasiden und Umayyaden (bis ca. 1031) oder des Osmanischen Reiches (bis 1922) und als solche durchaus Opfer der erfolgreichen Globalisierung westlichen Kapitalismus‘, projizieren sie ihren Verlust einstiger kultureller Höhe auf den unmittelbaren Nachbarn, der doch so eng mit den USA verbunden scheint. Ihr Antisemitismus speist sich so aus einem historischen Revisionismus, einem Minderwertigkeitskomplex gegen das kleine doch so wehrhafte Volk.

Hier ließe sich die Ideologie des Antisemitismus aber durchaus und im besonderen Maße ebenso als Schuldabwehr lesen: Die eigene Schwäche, mehr noch aber die eigene Bosheit, die in westlichen Demokratien doch hinlänglich öffentlichen Aushandlungen unterliegen, wird geleugnet und projektiv abgewehrt. Eine Selbstinfantilisierung findet statt, sobald die eigenen Verbrechen Thematisierung finden, während die der Anderen stets präsent bleiben: Exemplarisch und dadurch sträflichst reduktionistisch seien hier der Genozid an den Armeniern durch die Türken (1915-1916), der sunnitisch-syrische Giftgasangriff Assads im Bürgerkrieg (2018) oder der schiitisch-iranische Mord durch Sittenwächter an Jina Mahsa Amini (2022), als Symbol allgemeiner, religiöser Unterdrückung durch das Regime insbesondere, aber nicht nur von Frauen.

Die Selbstinfantilisierung nun liegt in der Besonderheit der Leugnung: Wo immer Verbrechen nicht ausgeblendet werden können, erscheinen sie als Reaktion, nie als Handlung mündiger Parteien, die aus eigener Kraft zum Bösen fähig sind.

So sehr sitzt dieses Muster, dass bis heute Israel als angegriffene und zur Vernichtung auserwählte Nation als einzige an der sogenannten Nakba im Unabhängigkeitskrieg 1948, der Vertreibung und Flucht in Israel lebender Palästinenser, verantwortlich gemacht wird. Eine muslimische oder arabische Teilschuld wird als moralisches Vergehen gleichbedeutend einer Holocaustrelativierung geahndet und abgewehrt.

Heute wiederholt dich dieses Muster: Nicht der Angriff und das darauffolgende Gemetzel durch Hamas und islamischer Jihad am 7. Oktober 2023 auch auf Kibbuzim und Friedensfestivals, sowie weitere Geiselnahmen werden berücksichtigt, wenn öffentliche und zivile Gebäude im Gazastreifen bombardiert werden, in denen sich die Terroristen verschanzen, die aus sicherer Entfernung in Qatar gelenkt werden, sondern einzig die durchaus rechte und in Teilen undemokratische Regierung Israels unter Benjamin Natanjahu, nach Möglichkeit aber das gesamte zionistische Projekt, zuweilen das jüdische Volk in toto tragen Schuld, sind Böse, manifestieren das Gerücht.

Der Postmoderne Antisemitismus erfährt so Futter aus einer unheiligen Allianz aus arabischem Nationalismus, islamischem Fundamentalismus, klassischer Rechten und der westlichen Linken in Deutschland, Europa und den USA.

Doch um noch einen letzten Rückgriff zu wagen, ist es nicht bloße Willkür, kein zufälliger Hass, der sich gegen das jüdische Volk richtet: Neben einem durchaus auch theologisch begründeten Streit um den Ursprung abrahamitischer Religionen, waren es vor Allem auch die Nationalsozialisten, die sich bemühten im Rahmen der Orient-Redaktion ihre Ideologie des Judenhasses in die arabische Welt zu tragen. So war am prominentesten auch der jerusalemer Großmufti Mohammed Amin al-Husseini Freund und Verbündeter Hitlers, sowohl in Europa, als auch in der Levante tätig.

Der Postmoderne Antisemitismus erscheint somit zwar von neuer Qualität, doch ist in seiner Geschichte mit dem modernen Antisemitismus so verquickt, wie dieser es mit dem Antijudaismus des Mittelalters war. Doch am Ende steht immer bloß das Gerücht über die Juden, die unterstellte Bosheit eines Volkes, das überlebt hat.

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Commune Mondiale Kunstprojekt
Liora Bina, Mark Erschüttert & Renard Volant in gemeinsamer Sache. Die Commune Mondiale ist ein kleines, sich avantgardistisch anmaßendes Kunstprojekt. Dabei handelt es sich um noch nicht mehr als eine persönliche Textsammlung: Unvollendet, unlektoriert, bruchstückhaft. Grundlegend ist uns hierbei das, was wir die diamoderne Auffassung nennen, die wir vertreten und für die wir einstehen. Ausdruck dessen ist letztlich ein gemeinsames Programm – nämlich das eines weltrepublikanischen Sozialismus: Demokratisches Recht, kommunistische Produktion und kosmopolitische Organisation versuchen wir in diesem Geiste intellektuell zu vereinen – auf die je eigene Weise und nicht immer auf direktestem Wege.

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