Verloren

Das verlassene Dorf

Es war Nacht, als ich das Dorf erreichte.

Eine seltsame Stille lag über den Straßen, nicht einfach die übliche nächtliche Ruhe, sondern eine tiefergehende, verheißungsvolle Abwesenheit von Leben.

Kein einziges Licht brannte in den Fenstern, kein Laut durchbrach die Finsternis. Die Gassen waren leer, als hätte das Dorf seinen Odem ausgehaucht. Ich blieb stehen, ließ den Blick über die verfallenen Fassaden und offenen Fenster gleiten.

Manche von ihnen standen weit auf, als hätte jemand sie am Morgen aufgerissen, um die frische Landluft zu begrüßen – ohne sich die Mühe zu machen, sie am Abend wieder zu schließen.

Ich zögerte. Sollte ich einen Blick hineinwerfen? Doch es schien mir unangebracht, in die Privatheit fremder Häuser einzudringen, selbst in dieser einsam anmutenden Stätte. Stattdessen setzte ich meinen Weg fort, suchte nach einem Gasthaus oder zumindest einem Zeichen von Leben – vergeblich.

Das Dorf war nicht sonderlich klein, aber es schien mir wie ausgehungert zu sein, beinahe verloren.

Gerade als ich mich damit abfinden wollte, die Nacht unter freiem Himmel verbringen zu müssen, zuckte ich zusammen. Eine Bewegung, ein sanfter Schatten – jemand war hier.

Ich wandte meinen Blick zum nahen Friedhof.

Ich sah sie sitzen, eine Frau, reglos auf der steinernen Treppe vor der Kapelle. Ihre Betrachtungen wanderten scheinbar gelangweilt über die Gräber hinweg, als würde sie dort auf etwas oder jemanden warten.

Neugier siegte über Skepsis. Da ich ohnehin eine Bleibe suchte – und sonst nichts weiter zu tun hatte –, trat ich näher.

„Guten Abend.“

Sie erhob ihren Kopf, langsam, ohne Anzeichen von Überraschung. Doch kaum hatte sie mich angesehen, wanderte ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf die Gräber vor ihr, als wäre meine Anwesenheit kaum der Rede wert gewesen.

„Nicht sehr gesprächig, oder?“ Meine Stimme klang leiser, als ich es wollte, beinahe zaghaft, „verzeihung, ich wollte nicht stören…“

„Du störst nicht.“ Ihre Worte kamen ruhig, doch ihre Stimme hatte einen rauen Klang, als würde sie selten benutzt.

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen uns. Der Wind strich sacht durch das Gras, bewegte die alten Bäume, ließ Schatten über die Grabsteine tanzen.

„Weißt du,“ begann ich erneut, unsicher, ob es klug war, weiterzusprechen, „ich hatte schon vermutet, das Dorf sei… verlassen.“

„Das ist es nicht.“

Keine Erklärung, kein weiteres Wort. Schweigen.

„Nun, zumindest bist du hier, nicht wahr?“ Ich versuchte ein schiefes Lächeln, doch es fühlte sich unauthentisch an, wenig freundschaftlich. Das war es sicherlich auch nicht.

„Das bin ich“, bestätigte sie kühl.

Einen Moment ließ ich die Worte in der Stille stehen, bevor ich mich irritiert auf solcher Art zu erkundigen suchte, als sei nicht ich der Gast an diesem Ort.

„Was tust du hier?“

„Gerade?“

„Ja… oder vielmehr… im Allgemeinen?“

Ich zögerte. Ich wusste selbst nicht genau, was ich eigentlich wollte. Wieso war ich überhaupt hier?

„Ich bin Totengräber.“

„Natürlich“, entfuhr es mir rascher, als es angemessen gewesen wäre, „nicht etwa Bestatterin?“

„Nein.“

Wieder fiel Ruhe zwischen uns, eine, die nicht gänzlich unangenehm war, aber auch nicht einlud, sie leichtfertig zu brechen. Die Dunkelheit lastete auf mir, doch wartete ich geduldig, bis sie schließlich fortfuhr:

„Ich rede nicht viel, weißt du. Du musst verzeihen…“

„Wieso auch? Tote pflegen in aller Regel zu schweigen.“

„Exakt.“

Ich hatte wohl nicht wirklich erwartet, dass sie lachen würde.

„Aber… wieso schläfst du noch nicht, so wie die Anderen?“

„Die Verstorbenen?“

Gequält lächle ich erneut. Zumindest hat auch sie Humor, gewiss. Er fiel wohl aber eher recht trocken aus.

Ich blinzelte.

„Ich meine… die Nachbarn.“

Ein warmes Grienen zog über ihre Lippen.

„Das Dorf ist leer, Darling.“

Zum ersten Mal sah sie mich wirklich an. Nicht nur ein flüchtiger Blick, sondern eine Prüfung, als hätte sie mich erst jetzt als ein reales Gegenüber erkannt. Etwas in ihrem Ausdruck veränderte sich – ein Spieltrieb blitzte auf, eine Spur von Koketterie, unerwartet innerhalb dieser Unterredung, in dieser Kulisse. Mein Herz schlug schneller, als habe sie mich mit unerwarteter Liebe bedacht.

„Aber du sagtest doch…“

„Ich bin Totengräber.“

Sie neigte leicht den Kopf zur Seite, als kostete sie ihre eigenen Worte aus.

„Doch seit geraumer Zeit warte ich vergebens auf Arbeit.“

Unbehaglich schaute ich mich um. Die zerrütteten, windschiefen Bauten sahen mit einem Male noch überkommener aus. Waren all diese Wohnhäuser tatsächlich verlassen?

Ich blickte zurück zu der bis gerade noch wenig geselligen Frau, die ihren kurzen Moment der Verzückung auch bereits wieder losgelassen zu haben schien. Unaufgeregt, beinahe schläfrig schaute sie erneut den Hügel mit den empor stechenden Steinen, ornamentalen Kruzifixen und steinernen Engel, die mit ihren starren Augen in die Nacht spähten, herab.

Ein Gedanke ließ mir die Kehle eng werden: Waren hier alle begraben? Jeder einzelne Bewohner dieser Ortschaft?

Alle – außer ihr?

„Du sagst also, es lebt niemand mehr hier. Doch du wartest noch immer? Worauf wartest du?“

„Ich lebe doch noch, Dummerchen.“

Ihre Stimme war weich, ihre Rede gelöst – doch in seltsamem Kontrast zu ihrer beinahe schläfrigen Gleichgültigkeit.

„Nun, du wirst dich ja wohl schlecht selbst begraben können, wenn es denn einmal soweit ist.“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, spürte ich ein leises Frösteln. War ich zu forsch gewesen? Zu spöttisch? Doch die Frage war ernst gemeint.

Wollte sie wirklich weiter Gräber ausheben?
Für wen?

„In der Tat“, nun klang sie beinahe traurig, „du bist ja doch aber bei mir, nicht wahr?“

Hätte sie mich angeblickt, ich hätte dieser reglosen Annäherung wohl nicht standgehalten. Ich hatte ehrlich gesagt nicht vor zu bleiben. Vor Allem nicht, um ihr ihren zu Tode geweihten Beruf zu retten.

„Ich werde so schnell nicht sterben, tut mir Leid.“

Tatsächlich ertappte ich mich dabei entschuldigend zu schmunzeln. Irgendwie schien es mir wahrhaftig Leid zu tun.

Die Frau seufzte. Es war mir unmöglich zu sagen, ob sie meine Lebendigkeit bedauerte oder etwas anderes. Und ebenso konnte ich nicht erahnen, wie alt sie überhaupt gewesen sein musste…

Zwar spendete der klare Sternenhimmel und der volle Mond genügend Licht, um mir die Kontur ihrer Miene zu umreißen, doch ob die Haut jener Einheimischen zart und straff – oder zäh und zerfurcht war… ich bildete mir ein, sie war gar beides.

Ihre Stimme aber war heiser, so wie die einer Greisin, doch jener eine Moment, in dem ihre verborgene Lebensfreude aufblitzte, gar nicht so viele Herzschläge im Vergangenen… da schien sie mir kaum mehr als ein Mädchen.

„Ich denke, ich werde nun weiterziehen müssen“, sprach ich schließlich, weil ich letztlich ihre Gegenwart nicht mehr ertrug.

„Ich weiß“, bemerkte diese knapp, „ich weiß.“

Als ich mich von dem Friedhof entfernte, da war mir, als hätte ich etwas wichtiges verloren. Doch wollte ich mit Gewissheit nicht mehr zurückkehren. Diese seltsame Frau flößte mir doch rundweg innerste Furcht ein. Das merkte ich erst jetzt.

Ich verließ also das – beinahe – verlassene Dorf.

Doch ich wusste, ich habe etwas verloren.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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