Was ist Wahrheit?

Der Prozess ist ihr bekannt, ebenso das ewig Bedingende, ihre eigene Positionierung im Verblendungszusammenhang.
Politik und Ökonomie, das Bewusstsein im Sein, das Zirkuläre, die Wechselwirkung, alles miteinbezogen, mitgedacht und eingebracht.

Das Nichtidentische und die Vernunft, Spekulation und Evidenz, Empirie und Logik, Modellierung und Prüfung, Rechnung und Experiment, Empathie und Affekt – wir brauchen alles, wie das kosmische Gesetz die Indifferenz zum Guten, dessen Werk das unsrige sein muss.
Systematische, randomisierte, kontrollierte, reproduzierbare, doppelverblindete, repräsentative Studien sind das Herzblut der Medizin, allegorische, kreative, assoziative, fragmentarische und unverständige Expressionen die Rationalität der Seele.
Sprechen wir also über Wahrheit, über Erscheinung und Wesen.

Doch „nein“, sagt der Eine, „meine Wahrheit ist gerecht, ich weiß bereits, was richtig ist.“
„Wie könnte er?“, sagt eine Andere, „Es gibt keine Wahrheit, das Bezugssystem ist alles, objektiv ist uns gar nichts.“

Aber sie sollte doch sprechen über so viele Dinge, denn wahr ist die Wahrheit doch.

So liegt diese aber nicht in uns, ist nicht im Reinen mit sich beim Denken und doch zugleich auch ihr Ergebnis, so wie sie einst gleichwohl Bedingung war.
Postmodern dagegen wäre es, Wahrheit zu nihilieren, keine Erkenntnis je zu proklamieren, außer die Autonomie des Partikels, des allzu Provinziellen.
Doch dieses wäre – wie sollte es anders sein – so falsch und unmoralisch wie der Wahn zur Rechthaberei.

Wer also von Wahrheit sprechen will, benötigt viel.

Doch lasst uns über Wahrheit sprechen.

Wahrheit, im vollendeten Sinne, wäre ein einziger zutreffender Satz, der die Gesamtheit des Universums und seiner Ursachen in einer dynamischen, kohärenten Form abbildete und entfaltete – Dieser stellte somit eine vollständige Simulation der Wirklichkeit dar, auf Basis eines mit dieser identischen oder eines ihr absolut unabhängigen Trägers.
Ersteres wäre die Wirklichkeit selbst, Zweiteres mithin nicht denkbar.

Wahrheit und Wirklichkeit entsprächen sich hiernach, sind auf diese Weise bloß analytisch getrennt. Die Wahrheit wäre somit das metaphysische Ziel einer allgemeinen Erkenntnis, unerreichbar und doch erstrebenswert im eigenen Wachstum der Persönlichkeit und der Wissenschaft.

Zugleich verpflichtete sich die Erkennende, ganz im Sinne der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, zugunsten der Wirklichkeit, als das Nichtidentische, im Vorrang des Objekts, auf das Vorurteil im Begriffe zu verzichten.
Die Proklamation der Wahrheit jedoch, wie es der frühe Maximilien de Robespierre zum Recht einer jeden Minderheit erklärte, bleibt dem Prozesse der Suche nach wahrhaftigem Wissen eigen, wie das Verschnaufen auf erreichtem Plateau im Aufstieg zum Gipfel eines unendlichen Berges.
Bescheidenheit im Angesicht der eigenen Fehlbarkeit, bei gleichzeitigem Hochmut gegenüber der eigenen Ohnmacht ist somit die Grundbedingung aller Wissenschaft, die sich selbst ernst nähme.

Die Transparenz in der Methodik der notwendigen Komplexitätsreduktion muss dabei jedoch stetige Anwendung finden, im Besten Falle in Erwähnung und Eingedenk aller erkennbaren und unsichtbaren Schranken unmittelbarer und systematischer Erkenntnisproduktion.
Denn alles Sein bleibt ein Werden, wie Georg Friedrich Hegel betonte, jedes entschlüsselte Gesetz bleibt bloß auf Abruf bestehen, was selbst ein Kritischer Rationalist, wie Karl Popper, verstand. Und je höher wir im Range der Wissenschaften in die Ableitung steigen, von der Mathematik zur Soziologie, wie Auguste Comte es erfasste, bis hinein in die konfliktgeplagte Psyche des Subjekts, wie Sigmund Freud sie offenlegte, steigt auch die Fehleranfälligkeit der Interpretation durch die Beobachterin, die doch längst die gleiche Wirklichkeit teilt und in ihr steht, daher untrennbar im Banne der Geschichte und der totalitären Ideologie ihrer Zeit und Gesellschaft gefangen bleibt.

Lasst uns also niemals aufhören über Wahrheit zu sprechen.

Denn den letzten Schritt zum radikalen Strukturalismus eines Ferdinand de Saussure, der die gesamte postmoderne Welt erfasste, in ewiger Immanenz der Sprache ohne Außen und Erfahrung dessen, mag die Humanistin nicht gehen dürfen.
Denn irgendwo zwischen Dogma und Willkür befindet sie sich:

Die Wahrheit.

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Mark Erschüttert Autodidakt
Mark Erschüttert ist gelernter Kaufmann für Büromanagement, mehr wohl aber liebevoller Glücksritter und impulsiver Geist. Als Stiefpapa und Studienabbrecher lebt er im Grenzgängertum zwischen kritischem Utopismus und profanem Realismus. Zudem: Dialektiker. Humanist. Unitarier – mit einer metaphysischen Hoffnung auf das Beste: Die negativ deologische Yeshu’a im Blick. Musikalisch ist er interessiert am Goth – insbesondere am Postpunk und Dark Wave – ohne jedoch vom esoterischen Überschuss irgendeiner sogenannten „schwarzen Szene“ betroffen zu sein. In der Malerei genießt er den Surrealismus, das Unverständige dabei mehr, als das Kitschige, zum Klischee Geronnene. Doch duldet er kein Stillstehen, gibt sich bei Allem auch die Freiheit sich zu entwickeln und am Morgen das Gegenteil zu genießen – ob Jazz oder Pop Art. Seine weitestgehend autodidaktische Bildung, sowohl im Privaten, wie auch in politischen Organisationen, ist nahezu frei von institutionellem Kapital. Es bleibt ihm eine beschädigte Seele, die jedoch das Denken, wie das Fühlen liebt. Er ist zwar gerne für sich, schätzt doch sonders die Verbundenheit und das Leben, liebt dabei zuvorderst auch all jene Menschen, die ihn prägten und noch immer prägen.

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