Was ist Reasonable Gothic?

Das 19. Jahrhundert brachte mit der Schauerromantik eine literarische Strömung hervor, die sich an den Grenzen der Vernunft bewegte. Während die Aufklärung völlig zu Recht in seiner konsequentesten Form den Menschen von Aberglauben und religiösen Dogmen befreien wollte, zeigte der Gothic Novel, als Sonderform der romantischen Gegenbewegung, dass der Schrecken nicht aus der Welt verschwand.

Während sich die Romantik im Allgemeinen gegen die erkennende Vernunft als alleiniges probates Mittel zur menschlichen Entwicklung wandte, dabei mitunter die Aufklärung emotional bereicherte, das andere Mal aber regressiv abwehrte, fand sie in ihrer dunklen Variante – in Auseinandersetzung mit Tod, Krankheit, Unsitte und Furcht – ihr Addendum.

Die damit einhergehenden regressiven Auswüchse an dieser Stelle, genannt seien u.a. Todessehnsucht, Aberglaube, Volkstümelei und Antisemitismus (den gab es auch in der Aufklärung bereits als eine Art Postantijudaismus), bleiben an dieser Stelle bloß beiläufig erwähnt.

In die Reihe der weniger rückständigen Tradition dieser Strömung, die die Aufklärung reflektiert und vermittelt, stelle ich dagegen das Reasonable Gothic – eine Schauerromantik, die sich nicht mit Esoterik oder Okkultismus verbündet, sondern das Unheimliche auf seine psychologischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Dimensionen hin befragt.
Sie sei die Ästhetik einer Welt, in der das Rätsel nicht durch Magie, sondern durch die Grenzen menschlicher Erkenntnis und die dunklen Seiten der Vernunft selbst, entsteht.

Jules Vernes „Das Karpatenschloss“ und Mary Shelleys „Frankenstein“ sind zwei paradigmatische Werke, die das klassische Gothic-Motiv bereits rationalisierten. Vernes Geschichte zeigt ein vermeintlich übernatürliches Phänomen, das sich letztlich als technologisches Trugbild entpuppt – ein Spiel mit den Grenzen von Glaube und Täuschung. Shelleys Frankenstein dagegen zeigt eine Wissenschaft, die sich ihrer eigenen Schöpfung entfremdet und so zum Monströsen wird, im erfolglosen Versuch den vermaledeiten Tod zu bezwingen.

Was diese Werke verbindet, ist ihr rationaler Umgang mit dem Unheimlichen:
Sie schaffen das Schaurige, nicht um es nüchtern zu entzaubern, sondern künstlerisch in die vernünftige Reflexion zu überführen, dabei thematisierend die unerforschten Grenzen der Vernunft und die Furcht vor dem Unbekannten.

Diese dialektische Spannung bildet die Grundlage der aufgeklärten Schauerromantik in meinem Sinne.

Mark Fishers Konzept der Hauntology zeigt uns, dass das Vergangene nie wirklich vergeht. Es kehrt zurück – als Phantom von Möglichkeiten, als Echo verlorener Zukunftsvisionen.
In einer Welt, die sich für rational hält, wirken die verdrängten Schatten umso stärker, verändern sich in ihrer Erscheinung und bleiben doch gleich in ihrer Malaise.
Fisher diagnostizierte eine Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft miteinander verschwimmen, in der Ideologien nicht mehr glauben, neue Welten erschaffen zu können, sondern nur noch ihre eigenen Ruinen bewohnen.

Reasonable Gothic greift diese Idee auf, indem es eine Brücke schlägt zwischen der Vergangenheit, dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen. Nicht die Übernatur ist es, die geisterhaft wird, sondern die Evolution, Geschichte und Biografie des Menschen in den Dimensionen von Natur, Gesellschaft und Individuum:

Der Schrecken kommt nicht aus einer anderen Welt – er ist die Konsequenz unserer eigenen.

Der „unvernünftige Rationalismus“ hingegen ordnet Wissenschaft und Logik den Bedürfnissen unmenschlicher Systeme unter, unerheblich, ob diese nun unter personaler Herrschaft einer Diktatur oder unter dem abstraktem Zwang einer sich verselbstständigen Maschinerie, wie dem generalisierten Markte, stehen.

Gleichzeitig – und dies ist das Schlüsselmoment des Reasonable Gothic – charakterisiert er den „vernünftigen Irrationalismus“ als Verbündeten des vernünftigen Rationalismus im kritischen Geist:
Das bewusste Anerkennen und Behandeln von Emotion, Sexualität, Intuition und Rätselhaftigkeit als integrale Bestandteile menschlicher Erfahrung.

Die aufgeklärte Schauerromantik reflektiert diese Position literarisch: Sie ist kein Esoterik-Kitsch, sondern eine radikale Untersuchung dessen, was geschieht, wenn Vernunft und Irrationalität sich begegnen.

Die Erzählweise von Reasonable Gothic ist geprägt von Düsternis, Furcht, Trauer und Unbehagen – nicht als bloßer Selbstzweck, sondern als ästhetisches Mittel, um Konflikte darzustellen: innere, gesellschaftliche, natürliche.
Dabei sind die Geschichten oft bewusst traumhaft oder assoziativ hervorgebracht, ganz in psychoanalytischer Idee eines Verdrängten im Unbewussten, kann aber auch systemisch werden, einer inneren Logik folgend, die außerhalb der erzählten Kosmos definiert wird.

Das Übernatürliche, wo es auftritt, bleibt dabei durchaus rätselhaft. Es gibt darum keine Dämonologie, keine Magie, keine Okkultismen als Erklärung – bloß Gesetz. Stattdessen können sogar klassische Schauerfiguren, wie Vampire oder Geister – wo sie in Erscheinung treten – auf eine symbolische Ebene gehoben oder gänzlich ohne Erklärung belassen werden, womöglich bloß narrativ-immanent ob ihrer Gründe wissenschaftlich bespekuliert – nicht aus Ermangelung an stumpfsinnigen Erklärungsversuchen, bekannt aus Film und Fiction, sondern um das Rätsel selbst, in seiner erdrückend-herausfordernden Form, erfahrbar zu machen.

In dieser Lücke aber liegt der rationale Kern des Genres:
Das Irrationale wird weder banalisiert oder mystifiziert, sondern will in seiner kränkenden oder befreienden Eigenschaft verstanden werden – als etwas, das nicht einfach aufgelöst werden kann, sondern als etwas, das es tief zu ergründen gilt.
Reasonable Gothic ist so eine Ästhetik des offenen Widerspruchs, eine Literatur, die das Unheimliche nicht einebnet, sondern in ein Verhältnis setzt – zum inneren Kosmos, zur Autorin, zur Leserin und der ihnen gemeinsamen Totalität.

Dies kann geschehen vor Allem in stilistischen Experimenten, in verkehrten oder übertriebenen Handlungsprämissen, in Fragmentierungen der Erzählung, in durchaus frustrierenden Perspektivwechseln, in unzuverlässigen Erzählrollen oder in einer Prosa, die selbst eine traumhafte Logik verfolgt.

Die Vernunft dieses Irrationalen liegt dabei nicht immer im Erzählten selbst. Das Reasonable Gothic bedarf letztlich immer ein vernunftbegabtes und kritisches Publikum, das bereit ist sich dem Unverständlichen, dem Nichtidentischen, hinzugeben, um Geist und Potential freizulegen.

Reasonable Gothic ist nicht nur eine literarische, sondern stellt sich auch in eine philosophische Tradition. Sie steht im Dialog mit Denkern wie:

Karl Marx, der die Geschichte als Albendruck, der die Lebenden heimsucht und gesellschaftliche Verhältnisse als Vampir, der dieselben verschlingt, zu umschreiben vermag,
Theodor W. Adorno, der in der Dialektik der Aufklärung darlegt, wie sich die List der Vernunft in neue Unfreiheiten verstricken mag und somit Ideologie und Aberglaube in lediglich äußerlich veränderter Form erhalten bleiben,
Sigmund Freud, der das Unheimliche als eine Rückkehr des Verdrängten deutet und den Traum für dechiffrierbar erklärt, nicht als Vision, sondern als Ausdruck innerer Konflikte und zensierter Wünsche,
Maimonides, der die radikale Negation des Erkennbaren – das Rätsel der Schöpfung selbst, als Bestandteil und Urgrund der Wahrheit sichtet.

Dazu kommen die literarischen Einflüsse der klassischen und neueren Schauerromantik und artverwandter Genres, wie Shelley, Stoker, Verne, Kafka, Orwell, Rice, u.a.
Zudem die Werke der Surrealistinnen, die den Gegenstand der Psyche mit handwerklicher Sorgfalt aufzudecken versuchen, auch die der Kosmistinnen, die den Weltraum und die Unsterblichkeit künstlerisch erforschten – all diese Einflüsse (und mehr) stehen für Elemente, die in der aufgeklärten Schauerromantik aufgegriffen, neu verknüpft und verwandelt werden wollen.

Reasonable Gothic (oder die aufgeklärte Schauerromantik) ist kritisch. Es hat das Schlimme zum Thema, blickt in den Abgrund, um das Richtige erkennbar zu machen.

Folter und Leid sind ihm nicht Entertainment, sondern Erfahrungen, die der Reflexion bedürfen. Verstörung ist ihm Methode, Erschütterung, wie Entrückung Ehre.
Dies alles jedoch, um Unrecht und Rückständigkeit zu thematisieren, Destruktives zu sublimieren, den Thanatos aufzudecken und zu problematisieren.

Dies unterscheidet das Reasonable Gothic auch vom Grimdark oder gar Snuff: Sein etwaiger Pessimismus ist gekoppelt an eine Anklage an die Wirklichkeit, die sich uns anders hätte zeigen sollen. Verschüttet liegt ihm die Utopie stets inne:
Als eben dieses Andere.

Es gibt so zwar nicht selbst die Antwort, stellt dagegen aber verdrängte Fragen, öffnet dabei doch auch den Blick für das besterdings Mögliche, indem es das Grausige im Grauen tatsächlich begreift.

Fern läge ihm daher der „unvernünftige Irrationalismus“, die spektakuläre Feier des Bösen und Sadistischen zum Selbstzweck.
Hiergegen wehrt sich das Genre im besonderen Maße.

Doch auch Folgendes will gesagt sein:
Reasonable Gothic ist bei alledem doch nur Kunst. Es bringt nichts hervor als Fiktion und Affekt. Es stellt sich der Menschenwürde freundlich zur Seite, doch verhilft nicht zu ihrer Geburt.

Wer den Fortschritt will, mag lesen was sie will. Sie mag ihn erkennen in der aufgeklärten Schauerromantik – oder auch nicht.

Denn gesellschaftliche Veränderung bleibt vor Allem eines:

Emergente Tat.

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Renard Volant Romancier
Renard Volant schafft seine Werke vornehmlich im Genre der aufgeklärten Schauerromantik als Vertreter des Reasonable Gothic. Seine Schriften durchziehen morbide, philosophische, politische, erotische, wissenschaftliche, surreale, historische, religiöse und psychologische Themen, stets getragen vom Geiste eines hedonistisch-moralischen Universalismus. Die Themen seiner Arbeit umfassen Ebenen der Natur, der Gesellschaft und des Individuums, zentriert um die Frage nach der Freiheit, als In- und Jenseits der Notwendigkeit. Der Mord am gesellschaftlichen Gott und am Vaterland interessiert ihn ebenso grundlegend, wie das Ende der auferlegten Arbeit und des erzwungenen Todes selbst, was den Beginn aller wahren Leidenschaften bedeutete. Renard Volant ist ansonsten reine Negation. Er hat keinerlei Vergangenheit, dabei jedwede Zukunft.

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